Stadtmitte: Fortschritt statt „blühende Landschaften“
■ Die Bundesregierung spart Berlin kaputt – und Diepgen blitzt bei Kohl ab / Von Ditmar Staffelt
Berlin ist immer eine Reise wert. Auch für die Bundesregierung. Bisher leider nur eine Reise. Die Politik Deutschlands würde sich stark verändern, wenn Deutschland statt von Bonn von Berlin aus regiert würde. Hier würde eine Regierung tagtäglich mit den „blühenden Landschaften“ konfrontiert. Und was noch wichtiger ist: Sie würde die Vielfalt und Buntheit Berlins kennenlernen und die Kreativität der unterschiedlichen Lebensweisen. Die Zukunft der Stadt liegt nicht nur in Toleranz und Offenheit gegenüber hohen Staatsgästen, sondern in erster Linie gegenüber denen, die in dieser Stadt leben und arbeiten. Veranstaltungen mit handverlesenen Gästen unter Ausschluß der Öffentlichkeit standen vor dem Mauerfall in Ost-Berlin auf der Tagesordnung. Man sollte meinen, die Zeiten haben sich geändert.
In der deutschen Hauptstadt sind mehr als 600.000 Menschen auf staatliche Leistungen angewiesen, das entspricht der Einwohnerzahl von Frankfurt am Main. Sozusagen der „Freizeitpark Berlin“, um an die philosophischen Ausführungen von Helmut Kohl zu erinnern.
Und Berlin soll weiter sparen. Dabei hat nach dem Fall der Mauer niemand mehr Opfer bringen müssen als die BerlinerInnen: Kürzung der Arbeitnehmerzulage (10 Milliarden Mark), Streichung der Berlinförderung (15 Milliarden), Streichung der Zuschüsse für den Berliner Haushalt (30 Milliarden), Wegfall der Subventionen wie beispielsweise bei Post, Fernmeldeverkehr, Flugverkehr, Umzugshilfen etc. (rund 70 Milliarden). Addiert man nur diese Posten, dann ergibt sich eine Ersparnis für den Bundeshaushalt um mehr als 120 Milliarden Mark, den das Land Berlin und seine Einwohner erbracht haben. Hinzu kommt der Wegfall der Alliierten und ihrer Familien. Zwischen 30.000 und 40.000 Personen, die die Stadt seit 1990 verlassen haben. Die Kaufkraftverluste sind enorm.
Mir fallen in diesem Zusammenhang der Protest und die Hilfeschreie von Politikern und Gewerbetreibenden aus Rheinland- Pfalz ein, wenn dort eine Kaserne der alliierten Truppen mit 400 Soldaten geschlossen wird. Ohne finanzielle Kompensation geht dort nichts. Offenbar funktionieren auch die Langzeitgedächtnisse einiger Bonner MinisterInnen nicht mehr so gut. Was haben sie den BerlinerInnen kurz nach dem Mauerfall alles versprochen. Niemandem wird es schlechter gehen. Und jetzt wollen sie sogar bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe kürzen. Es ist ein Elend mit dieser Regierung Kohl.
Die letzten Jahre haben leider auch gezeigt, daß die Einflußnahme der Berliner CDU-Spitze auf die Bundesregierung weitaus geringer ist, als sie sich selber vorgestellt hat. Auf Einsprüche des Regierenden Bürgermeisters Diepgen hat die Regierung Kohl nicht positiv reagiert, sondern die Finanzausstattung Berlins weiter gekürzt. Keine gute Ausgangslage für die Stadt.
Aber wir dürfen nicht ausschließlich auf Bonn schauen. Berlin wird nur eine Chance haben, wenn es konsequent die Zukunftstechnologien gewinnt: Verkehrs-, Umwelt-, Kommunikations- und Medizintechnologie. Außerdem müssen wir alles versuchen, die Hauptstadt wieder zu einem Zentrum der Film- und Fernsehbranche umzubauen. Im Ruhrgebiet wurden zum Beispiel in den vergangenen zehn Jahren eine halbe Million neuer qualifizierter Arbeitsplätze in den Zukunftsbranchen geschaffen.
Wir brauchen heute auf Bundesebene dringender denn je ein Umsteuern, einen Wechsel zu einer Politik wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Reformen. Der US-amerikanische Vizepräsident Al Gore hat es so formuliert: „Die Wirtschaft wird nicht ein einziges Prozent wirkliches Wachstum durch die Zerstörung der Natur erzielen können, alle anderen Aussagen sind falsch. Aber auch die Ökologie wird nicht eine einzige Blume retten können, wenn sie die Natur nur gegen die Wirtschaft abzuschirmen versucht. Nur gemeinsam werden wir es schaffen.“
Ich meine, wir müssen endlich aufhören, wegen ideologischer Scheuklappen einiger unflexibler alter Herren Umwelt gegen Arbeit auszuspielen. Berliner Ziel muß sein, die Stadt zur grünsten Industrieregion Europas auszubauen. Weil wir auch in Zukunft Industrieproduktion und Gewerbe brauchen, müssen wir zeigen: Der Weg der Industriegesellschaft darf nicht in die ökologische Katastrophe führen.
Ditmar Staffelt ist Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD.
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