Stadtbild: Kühne Wölbung ohne Widerlager
■ Wo das Stadtbild zu wünschen übrigläßt (23. Folge): Weidendammer Brücke
Es gibt Orte mit mythischer und poetischer Anziehungskraft: Der Alexanderplatz, der Potsdamer Platz oder die Friedrichstraße zählen hierzu. Es sind Orte der Modernität und des Wandels. Zu ihnen gehört die Weidendammer Brücke nördlich des Bahnhofes Friedrichstraße. Hannes Meyer zählte Anfang der zwanziger Jahre darauf nicht nur die Bettler: „Auf die knapp hundert Meter kommen 131 Nutten.“ Erich Kästner hat die Brücke mehrfach bedacht: „Kennt ihr die Weidendammer Brücke? Kennt ihr sie am Abend, wenn unterm dunklen Himmel ringsum die Lichtreklamen schillern? (...) Hochbahnen fahren über die Straße, die Fenster der Züge sind erleuchtet, und Wagen gleiten wie schillernde Schlangen in die Nacht. Die Autos pfeifen, die Autobusse rattern, die Autos hupen, die Menschen reden und lachen.“
Noch immer gleiten die „schillernden Schlangen“ der S-Bahn durch die Nacht, aber zu emphatischen Ausrufen stimuliert der Ort niemanden mehr. Die Konturen des ehemaligen Grenzortes haben sich eingeschliffen und den einstigen Glanz von Theater, Varieté, Kino und Halbseide endgültig in den Bereich des Mythos der Stadt verwiesen. Die Weidendammer Brücke und ihr leeres Umfeld weisen derzeit in eine blasse Zukunft: Berlin will dort keine Modernität. Die Kraftlinien des Ortes sind weder in die Strukturkonzepte noch in die Entwürfe des jüngst entschiedenen städtebaulichen Wettbewerbs mit eingeflossen. Der Ort wird im Buletten-Einerlei von 22 Meter Höhe zugekleistert. Nirgendwo hätte die Überwindung der Traufhöhe so wenig gekostet wie an der Weidendammer Brücke.
Hier steht das Tor zur Innenstadt, hier gibt es Raum, hier kann doch das Leben wieder pulsieren. Im Tränenpalast, der erhalten werden soll, wird es konserviert! Die Brücke selbst und ihr Umfeld stehen synonym für Veränderung und Umbruch. Rechts und links der Brücke lagen im 19. Jahrhundert die großen Industrieanlagen, wurden Schiffbau (Schiffbauerdamm) und Eisengießerei betrieben. 1826 ersetzte man die Holzbrücke durch Eisen – „eine kühne Wölbung und ohne Widerlager“. Diese wurde seitdem dreimal, um die Jahrhundertwende, vor dem Ersten Weltkrieg und 1922, neu gebaut. Derzeit liegt sie erneut unter einer Rüstung begraben, die der fragilen Eisenkonstruktion zu Standfestigkeit verhelfen soll. Wenn sie enthüllt wird, werden wir die alte Brücke neu sehen. Und um sie herum spielen wir städtebaulichen Mummenschanz. Rolf Lautenschläger
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