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Stadt, Land, Flucht „In die Provinz – bist du irre?“

Aron zieht aufs Land, auf einen ausgebauten Bauernhof in Sachsen-Anhalt. Seine Berliner Freunde sind entsetzt.

Aron ist vom Land nach Berlin gezogen, jetzt geht es zurück. Aber versteht er das Leben hier noch? Privat

Von ARON BOKS

taz FUTURZWEI, 06.07.2023 | Gleich geht‘s los, aufs Land, denke ich. Ich habe eine neue Wohnung, in drei Stunden darf ich sie beziehen. Sie liegt in einem ausgebauten Bauernhof, ziemlich idyllisch, in der Provinz Sachsen-Anhalts.

„Bist du irre? Warum machst du das?“, fragt Ruth.

Sie, ich und Tina haben uns zum Mittagessen in der taz-Kantine getroffen bevor ich fahre. Und zugegeben: Ich bin im Harz geboren und aufgewachsen und mit 19 so schnell es ging von dort weggezogen. Ihre Frage nach meinen Beweggründen liegt also nahe.

STIMME MEINER GENERATION​

Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die neue taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.

Boks, 26, wird gefördert von der taz Panter Stiftung.

Er wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.

Fuentes, 28, ist taz Panter-Volontärin in der taz-Redaktion.

Sie wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und ist seit Oktober 2021 taz Panter Volontärin.

Ich ziehe nicht aus Wohnungsnot aufs Land. Grund ist ein Schreibstipendium – in Kalbe (Milde), im Norden Sachsen-Anhalts. Dort gibt es ein Künstlerhaus.

Warum zurück in die Provinz?

Während ich beim Essen ehrlich fröhlich die Eckdaten meines zukünftigen Wohnorts durchgebe – 7.000 Einwohner:innen, Rufbusse, ein örtlicher Wanderverein – und dabei von Chancen und, ja, neuen Perspektiven rede, bemühen sich Ruth und Tina interessiert auszusehen, sagen aber nichts.

„Habt ihr denn noch nie darüber nachgedacht, wieder zurück aufs Land zu ziehen?“, frage ich irgendwann. In zwei Wochen muss Ruth aus ihrer Wohnung raus, die Zwischenmiete endet.

Sie legt ihre Gabel bei Seite und sieht mich irritiert an.

„Auf keinen Fall! Niemals!“

„Aber warum denn nicht?“, frage ich halbherzig.

„Weil ich das Leben hier liebe, die Kultur, die Vielfalt“, antwortet sie hektisch, als würde sie wieder am Küchentisch ihrer Eltern sitzen, die sie so gern bei sich im Odenwald leben sehen würden, vor Ort aber kaum zu Gesicht bekommen.

Meine Freund:innen, die Praktikant:innen an unserem Nebentischen, sie alle reagieren ähnlich irritiert, wenn es um das Provinzleben geht und sprechen von Prüderie, Enge und Langeweile.

„Also: Land geil, die Leute – no way“, sagt Tina kurz bevor die beiden zurück an ihren Arbeitsplatz gehen. „Andererseits war ich auch seit meiner Schulzeit nicht mehr so richtig dort.“

Wie verstehe ich das Land?

Drei Stunden später: Ich habe die ganze Zeit versucht mir selbst ein bisschen Mitleid zuzusprechen. Der arme junge Mann, der aufs Dorf muss. Und schon aktivierte sich der Typ Hauptstadtjournalist über den ich zuvor in einem Artikel gelesen habe: einer der sich todesmutig und wie in einem Jeep auf dem Weg in den Dschungel fühlt, obwohl er sich nur in den Zug nach Rathenow setzt und danach – am Schreibtisch in der Stadt sitzend – seine Texte über „das Land“ schreibt.

Ich will aber wirklich das Leben hier erfahren. Hauptstädtisch arrogante Abenteuerlust hin oder her. Der Großteil der Gesellschaft lebt auf dem Land und ich glaube nicht, dass die Formel um das Landleben zu erfahren und authentisch zu besprechen, so kompliziert ist. Nein, sehr wahrscheinlich lautet sie: auf dem Land leben, um davon zu erzählen. Nur haben viele da keinen Bock drauf.

Meine Situation hier in Sachsen-Anhalt ist ziemlich privilegiert. Ich bekomme Geld um hier zu wohnen – übrigens an guten Zugtagen nur zwei Stunden weg von Berlin. Mich treibt keine Not um, eher Nervosität, in meinem Zwischenstadium zwischen geborenem Land- und gewordenem Stadtmensch nicht klarzukommen. Reicht es Sonntags in die Kirche zu gehen? Muss ich zum Fußball- oder gleich zum Heimatverein, um das Leben hier zu spüren?

Stadt gegen Land?

Je weiter es in die Provinz geht, desto kleiner werden die Züge, desto leerer die Bahnhofsvorplätze – zuerst verschwinden die Backshops, dann die Gleise, und beim letzten Umstieg vor meinem neuen Wohnort bleibt nur noch eine überdachte Bushaltestelle, dessen Din A4 große Fahrplanabbildung nur zu einem Viertel gefüllt ist.

Beim Warten packe ich ein Magazin aus, das ich mir vor meiner Abreise am Bahnhof gekauft habe und das den Schwerpunkt „Stadt gegen Land“ behandelt. Die Titelgeschichte dreht sich ausgerechnet um meinen nun früheren Wohnort Neukölln, „diesem Berliner Stadtteil, von dem sich mittlerweile sehr viele Menschen in Deutschland, ja auf der ganzen Welt, ein Bild gemacht haben, ohne je hier gewesen zu sein.“

Linienbus und FOMO

Die Provinz beziehungsweise das Dorf hat es nicht viel einfacher, wenn es darum geht, Vorurteile über sich vergehen zu lassen, denke ich – und daran, dass ich es selbst in der Hand habe, daran etwas zu verändern. Schließlich bin ich ja laut meines Förderbescheids hier, um das kulturelle Leben zu bereichern. Dann reißt mich ein vertrautes Zischen aus den Gedanken. „Nicht losfahren!“, schreie ich noch, bevor ich nur noch die Hinterlampen des Linienbusses sehen kann, der fast geräuschlos neben mir gestanden hatte hat, obwohl ich der einzige Wartende war.

Der nächste Bus fährt hier in 120 Minuten, was noch einmal extra provokant von der scheiß ÖPNV-App des Landes Sachsen-Anhalt betont werden muss. Dieses Bundesland, das die Dreistigkeit hatte, einst auf Autobahnschildern stolz „Land der Frühaufsteher“ zu schreiben und das als Leistung herauszustellen. Obwohl die Bürger:innen hier offenbar gar keine andere Wahl haben, als in ständiger „FOMO“ morgens hochzuschrecken. Ich trete frustriert gegen einen Mülleimer.

„Willst du nach Kalbe?“, brummt ein bulliger Typ mit Bierflasche in Shorts und Tanktop hinter mir. Er sieht aus wie einer dieser aggressiven Dorfatzen aus meinem Heimatort, die ich aus der Schulzeit kenne – aber seine Augen leuchten, während er auf mich zukommt.

„Ich auch“, sagt er und deutet auf einen deutlich kleineren Bus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der dort noch wartet und ebenfalls nach Kalbe fährt.

„Du siehst nicht aus wie jemand von hier“, sagt er, als wir im Bus sitzen und zupft an meiner Wildlederjacke mit Manschettenknöpfen. Dann stellen wir uns vor: Karim ist 25, Maler und war ebenfalls Stipendiat in der Künstlerstadt. Ursprünglich kommt er aus der Ukraine und lebt jetzt seit Ende seines Stipendiums hier in einem Nachbarort.

„Was hält dich hier?“, frage ich, nachdem wir beide in Kalbe ausgestiegen sind.

„Nun, mein Heimatort wird leider gerade ständig zerbombt.“

Bevor ich irgendetwas stottern kann, beginnt er zu lachen, schultert meine Tasche und zeigt mir den Weg zu meiner neuen Wohnung. Nachdem er mir noch ein Fahrrad vom Künstlerhaus besorgt hat, gibt er mir eine fünfzehnminütige Tour durch ganz Kalbe. Er redet dabei von einem Atelier, dem „Unordnungsamt“– einer Kreativ- und Partyeinrichtung – und in der Ferne gäbe es sogar ein Anarchodorf. Das stand alles nicht auf Wikipedia, denke ich. Zwar sehe ich nichts von all dem auf den Straßen, andererseits beginnt auch gleich die Tagesschau.

Das Abkotzen der Ex-Provinzler:innen

Woher ich eigentlich komme? Aus Berlin? Aus Neukölln? Oh je. Er schüttelt betreten den Kopf. Die Vorurteile klar, denke ich. In Neukölln leben lauter Kriminelle, im Dorf die Hinterwäldler.

Die meisten Leute, die ich in Berlin kenne und mit denen ich routiniert über das Dorfleben ablästere, kommen selbst aus der Provinz, kotzen aber jetzt über die dortigen Lebensrealitäten ab, während sie indirekt den Leuten unterstellen, dass sie einfach zu doof sind, sich auf das geile Leben einzulassen, das wir hier führen.

„Hier spürst du, dass der Tag Zeit hat“, sagt Karim, als er mich zu meiner Bauernhofscheune bringt. „Ich fühle mich zum ersten Mal seit langem am Leben.“

Bevor ich fragen kann, ob das an der Distanz zum Krieg, der guten Landluft oder etwas ganz anderem liegt, erzählt er mir, dass er nach seiner Flucht eine Weile in Berlin gelebt hat: Hermannstraße, Neukölln.

Wo liegt das Glück in der Provinz?

Er kommt aus Kyjiw, da wäre die Großstadt als Wohnort eigentlich reizvoll, gerade als Künstler. Am Wochenende fährt er auch dort hin. In Berlin kann er aber nicht wohnen, vielleicht irgendwo bei Spandau. In der Stadt findet er sein Glück nicht. Karim ist Mitte zwanzig, Künstler und lebt jetzt zwischen leeren Dörfern im statistisch ältesten Bundesland Deutschlands.

„Aber wie findest du das Glück dann hier?“

„Das kann ich dir nicht erklären – das musst du erleben, um es zu verstehen“, sagt er. „Wenn du willst, dann helfe ich dir dabei.“

Jetzt muss er aber los, er wollte eigentlich nur kurz nach Kalbe, um hier eine Besorgung zu machen. In dreißig Minuten fährt der letzte Bus zurück. Und ich fahre am nächsten Tag dann doch nochmal nach Berlin um mich von meinen Freund:innen zu verabschieden und meine Wohnungsschlüssel abzugeben. Kündigung wegen Eigenbedarf: Sorgen, die ich in der Stadt lasse.

„Du weißt aber, dass du auch immer bei uns unterkommen kannst“, sagt einer meiner Freunde beim Abschied.

"Ihr auch bei mir!", antworte ich.

Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.