Spurensuche im Erbgut: Auf dem Highway 128
Ein Geistesblitz auf einer nächtlichen Autofahrt vor 25 Jahren führte zur Polymerase-Kettenreaktion. Diese Technik zur Erbgut-Vervielfältigung hilft in der Diagnostik sowie bei der Verbrechensaufklärung.
Ein Haar, ein Blutstropfen, ein Schleimabstrich, ein Knochenkrümel - egal. Heute genügt eine kleine Probe, um das darin enthaltene Erbmaterial untersuchen zu können. Dass das überhaupt möglich ist, erlaubt die Polymerase-Kettenreaktion (PCR), mit der sich Abschnitte im Erbgut in kurzer Zeit so sehr vervielfältigen lassen, dass die Menge zum analytischen Nachweis ausreicht. Zu verdanken ist das heutige Routine-Verfahren dem US-Amerikaner Kary Mullis. Im Frühjahr 1983 hatte der Biochemiker die entscheidende Idee.
Es war auf einer nächtlichen Autofahrt von San Francisco zu Mullis Wochenendhäuschen in Mendocina. Seine Freundin schlief auf dem Beifahrersitz, und Mullis brütete über der Frage, wie sich einzelne Abschnitte in dem Ergbutmolekül Desoxyribonukleinsäure (DNA) gezielt vermehren ließen, um sie nachweisen zu können. Der damals 38-Jährige beschäftigte sich bei der kalifornischen Biotech-Firma Cetus mit der DNA-Synthese und war durch einen Kollegen auf das Problem gekommen, weil dieser Mutationen im Erbgut sichtbar machen wollte.
Später konnte Kary Mullis sich sogar an den Meilenstein am Highway 128 erinnern, bei dem er den Honda stoppte, um seinen Einfall zu notieren: 46,7. Im Grunde basierte Mullis Ansatz auf einer Simulation dessen, was bei der natürlichen Zellteilung mit dem gesamten Erbgut geschieht: das - einer verdrillten Strickleiter ähnelnde - DNA-Molekül in zwei Einzelstränge zerlegen, dann an jedem Strang einen Startpunkt markieren, von dem aus das Enzym DNA-Polymerase wieder einen zweiten Strang anlagert. Am Ende hätte er aus einem Doppelstrang zwei gemacht. Würde er diesen Schritt zweimal ausführen, hätte er bereits die vierfache Menge, nach drei Schritten die achtfache - und so weiter.
Anders als bei der Zellteilung ging es hier aber nicht um die Verdopplung des gesamten Erbguts, sondern nur um einen bestimmten Abschnitt, etwa den, bei dem man eine Mutation vermutet. Der Trick bestand daher darin, Startpunkte für die Polymerase so zu setzen, dass genau der interessierende Bereich verdoppelt würde. Die dafür notwendigen Primer so zu wählen, dass sie möglichst spezifisch nur an genau eine einzige bestimmte Stelle im Erbgut, nämlich die interessierende, passen, das war also die Kunst.
Im Jahr 1985 schließlich veröffentlichte Mullis im Fachmagazin Science erstmals seine geglückte Polymerase-Kettenreaktion. Dabei hatte er in 20 PCR-Zyklen ein für die Sichelzellenanämie entscheidendes Gen vervielfältigt und nachgewiesen. Zwanzig Verdopplungen - das entsprach einer Vermillionenfachung der Ausgangsmenge. Genug für den analytischen Nachweis. Allerdings gab es noch ein Problem: Die Polymerase überstand die 90 Grad Celsius nicht, die bei jeder Verdopplung kurzzeitig nötig waren, um die Doppelstränge in ihre Einzelstränge zu zerlegen. Daher musste das Enzym nach jedem Erhitzen neu zugesetzt werden. Erst 1986 stieß man in Bakterien aus dem Yellowstone-Park in den USA auf eine Polymerase, der die Temperaturerhöhung nichts ausmachte. Science feierte diese Polymerase als Molekül des Jahres 1989.
Als Mullis 1993 den Nobelpreis für Chemie erhielt, gab er in seiner Rede zwar an, in jener Nacht 1983 gedacht zu haben, dass das Ganze entweder "eine große Täuschung sein müsse oder aber die DNA-Chemie für immer verändern und ihn berühmt machen" würde. Trotzdem scheint er die wirtschaftliche Dimension seiner Erfindung nicht erfasst zu haben. Als er Cetus verließ, gab er sich für die Rechte an seiner Idee mit nur 10.000 Dollar zufrieden. Später überwies der Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-La Roche 300 Millionen Dollar an Cetus.
Heutige PCR-Geräte arbeiten weitgehend automatisch. Die Probe wird mitsamt allen Zutaten, also Polymerase, Primer und die für den Aufbau immer weiterer Doppelstränge nötigen Erbgutschnipsel, in kleine Röhrchen gegeben, die man dann in einem Thermocycler positioniert. Deren Hauptleistung ist die sekundenschnelle und akkurate Temperaturvariation, denn bei jedem Zyklus müssen die Proben in schnellem Wechsel auf drei unterschiedliche Temperaturen zwischen 55 und über 90 Grad Celsius gebracht werden.
Egal ob es im Heilbronner Polizistinnenmord eine neue Spur gibt, ob man im Zuge einer Verbrechensaufklärung im sächsischen Coswig die gesamte männliche Bevölkerung zum Speicheltest bittet, ob man Salmonellen in Lebensmitteln oder Hepatitis-Viren in Blutkonserven nachweist, heute ist die Polymerase-Kettenreaktion allgegenwärtig im Einsatz. Die zahlreichen Vaterschaftstests - ohne PCR undenkbar. Und wenn Forscher sich heute mit den Ähnlichkeiten von Neandertalern und Menschen beschäftigen, geschieht dies auf Basis von Genmaterial - und damit der PCR. Auch das Humangenom-Projekt wäre ohne PCR so nicht denkbar gewesen.
Kary Mullis war 38 Jahre alt, als er die entscheidende Idee zur PCR hatte. Eigentlich hatte er noch ein ganzes Forscherleben vor sich. Doch als Wissenschaftler trat er praktisch nicht mehr in Erscheinung, er verlegte sich aufs Schreiben und Beraten. Zwischenzeitlich fiel er noch einmal auf, als er sich der Theorie anschloss, nach der Aids eine rein "sozioökonomische" Konstruktion sei und gar nicht auf dem HI-Virus beruhe. Das ändert freilich nichts daran, dass die von ihm erfundene PCR heute auch bei der Aids-Diagnostik zum Einsatz kommt, indem sie zur Vervielfältigung des Erbmaterials eben dieses HIV genutzt wird.
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