: Spuren und Narben
Bitter-lustig: Hella Streichers Szeneroman „Höhere Welten“ ist eine Bremensie mit therapeutischem Effekt
„… Hinter mir, mitten auf dem Platz an der Humboldtstraße, wie ein kleiner Tempel, das lindgrüne Pissoir mit den roten Dachschindeln, die Wände voller Graffiti und Konzertplakate.“ So also beginnt ein deutscher Alltagsroman, dem Joseph Beuys Credo “die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“ voransteht und der, obacht!, „Höhere Welten“ heißt. Szenisch Eingestiegen wird mit einem heruntergekommenen Viertel voller Junkies, Säufer und Träumer.
Hella Streichers erster Roman darf getrost eine wunderbare Bremensie genannt werden; ein historisches Sittengemälde hauptsächlich der neunziger Jahre; ein Bremer Garten der (geistigen) Lüste und Niederungen – der Roman ist Bekenntnis und Abrechnung zugleich.
Und das hat wohl auch einen therapeutischen Effekt. Denn nicht nur die braune Vergangenheit des Großvaters und die schwarze Kohl-Ära hinterlassen an der Protagonistin Andrea Spuren und Narben. Ebenso beeindruckt haben sie Begegnungen mit der Anthroposophie und pseudopsychologische Ausflüge in die „höheren Welten“, die dann doch an den Niederungen des Alltags scheitern.
Oder auch: Sich die Seele aus dem Leib kotzen. Wie die bulimieleidende und vom Borderline-Syndrom heimgesuchte Antiheldin Luise: Hass- und Liebesobjekt, Spiegelbild einer zerrissenen, neben sich stehenden, dabei verklärten Generation. Da haut Hella Streicher ordentlich rein.
Gar bitter-lustig sind diese gewissen „Hetero-Frauen, die ihren Traummann“ suchen, um ihre lesbische Neigung zu verleugnen. Hella Streicher begegnet ihnen mit oberlehrerhaften Sarkasmus. Doch der kommt mit einer sympathischen Gewitztheit daher, die verzeihlich stimmt.
Der Roman der 48-jährigen Autorin ist im BoL-Verlag erschienen und strotzt vor literarischen und musikalischen (auch die Bremer Musikszene kommt zum Zug) Zitaten und Anspielungen. Bemerkenswert ist das luftige Gleiten zwischen Umgangssprache und stilisierter Literatur, das die Sätze ungemein lebendig und greifbar werden lässt.
Gegen Ende wird das Ganze vielleicht etwas zu lang und breit ausgewalzt, vieles wiederholt sich. Aber so ist das eben, in diesem Alltag. Daniela Barth
Am 9.5. liest Hella Streicher aus „Höhere Welten“ um 22.30 Uhr im Brauhauskeller