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Archiv-Artikel

Sprich, München, sprich

Während Israel gegen die Hisbollah vorgeht, explodiert die Erinnerung

In Sartres Begleitung war die wahrscheinlich schönste Frau der Welt

Ich hatte Steven Spielbergs Film „München“ nicht im Kino gesehen, aber am 1. August 2006 erschien er auf DVD, und ich lieh mir den Film noch am gleichen Tag aus, da er zur aktuellen Lage im Nahen Osten passte. Während um mich herum alle Menschen begannen, Israel zu verabscheuen, konnte ich Israels Handeln gegen die Hisbollah immer besser verstehen. Wenn sich etwas schon „Partei Gottes“ nennt, kann es nur widerwärtig sein. Außerdem erinnerte ich mich noch genau daran, wie ich während der Olympischen Spiele 1972 aus der Schule nach Hause kam und es nicht fassen konnte, was in München geschah.

„München“ beginnt mit einer Tafel von Städtenamen, in denen Olympische Spiele stattfanden. Langsam verblassen die übrigen Namen, während der Schriftzug „München“ hervortritt, sich rot färbt und schließlich die Leinwand ausfüllt. Der Film, der gar nicht israelfeindlich ist, wie die Kritik behauptet hatte, spielt in den Siebzigerjahren und an vielen Orten der Welt, auch in Rom. Auf einem Platz in der italienischen Hauptstadt sitzen drei Männer in einem Café: Eric Bana als Avner, Moritz Bleibtreu als Andreas und Yvan Attal als Tony. An dieser Stelle des Films geschah etwas Merkwürdiges. Meine Erinnerungen explodierten. Ich musste den Film unterbrechen.

Im Sommer des Jahres 1977 hatte ich in ebendiesem Café in Rom gesessen. Ich war sechzehn und trampte gemeinsam mit einem Freund durch Europa. Zwei Tage hatten wir nach Rom gebraucht und die Nacht zuvor in München verbracht. Wir hatten gruselig-komische Tramper-Geschichten erlebt, von denen wir schon damals wussten, dass sie später einmal für uns das sein würden, was für unsere Großeltern ihre Kriegsgeschichten waren. Spätere Generationen würden nur müde lächeln, wenn ich zum x-ten Mal die Geschichte erzählte, wie hinter Florenz ein riesiger Schweinetransporter anhielt. Der kleine, schnurrbärtige Lastwagenfahrer trug ein nicht mehr ganz so weißes, durchgeschwitztes Unterhemd und thronte lächelnd auf seinem Führersitz. Offenbar langweilte er sich mit den grunzenden Schweinen auf der Ladefläche hinter sich, weshalb er uns freundlich einlud, mitzufahren. Da er aber nur Italienisch sprach, musste er allein für die Unterhaltung sorgen. Kilometer für Kilometer quackelte er vor sich hin. Bis er plötzlich in der Fahrerkabine herumzuschnüffeln begann. Er beugte sich bedenklich weit weg von seinem Lenkrad zu uns herüber, sog die Luft tief ein und fluchte dann anerkennend: „Porce Dio!“ Aus einem verborgenen Fach zauberte er eine Dose Tannennadelspray hervor. Dann besprühte er ausgiebig unsere lässig auf die Konsole gelegten Füße. „Va bene!“, zahnte der Fahrer uns an, und wir hielten uns die Blasen, damit sie nicht explodierten.

Am Abend in Rom saßen wir auf einer Piazza in einem Café. Wir hatten gerade bestellt, als Jean-Paul Sartre das Lokal betrat. Ich erkannte ihn sofort, dieser hässliche Zwerg war unverkennbar Sartre. In seiner Begleitung war eine junge Dame, die wahrscheinlich schönste Frau der Welt. Jedenfalls war es nicht Simone de Beauvoir. Sartre und die Schöne setzten sich an einen Nachbartisch, und ich war fassungslos. In Paris hätte ich so etwas womöglich erwartet, aber hier in Rom? Ich hatte gerade mein erstes Buch von ihm gelesen und nichts verstanden von diesem Zufall der menschlichen Existenz, in dem jeder Einzelne selbst aktiv werden musste, um sein Leben zu gestalten. Aber Sartre war ein Star, spätestens seit er 1974 Andreas Baader in Stammheim besucht hatte. Also musste man Sartre lesen. Und jetzt saß Sartre nebenan. Aber saß er tatsächlich neben mir? War diese Erinnerung nicht nur ein Konstrukt wie jede Erinnerung? Fiktional und gelogen, wie jede Geschichte fiktional und gelogen ist?

Fast 30 Jahre hatte ich nicht an Sartre am Nebentisch in Rom gedacht, und jetzt sah ich „München“ und erinnerte mich genau an das Café. Das allerdings in Wirklichkeit gar nicht in Rom lag. Das Film-Rom war Malta, wie ich schnell herausfand. Ein Platz in der Hauptstadt Valetta war der Drehort für das Café in Rom. Auf Malta wurden alle Szenen für „München“ gedreht, die am Mittelmeer und im Nahen Osten lagen. Aber dann konnte mein Café in Rom gar nicht meine Erinnerung sein. Und meine Reise nach Rom? Was war mit Sartre? War Moritz Bleibtreu Andreas Baader? War der Schweinetransporter nur ein Symbol? Für das Schweinebratensystem? Oder sogar für das ganze Leben? Aber war dann nicht alles ein Konstrukt? Doch wenn alles nur eine Erfindung war, dann konnte man auch Erinnerungen erfinden. Dann hätte ich am Tag, nachdem ich neben Sartre saß, meine erste Geschichte niedergeschrieben. Sie hätte zwar nur von einem Schweinetransporterfahrer und den Füßen zweier Tramper gehandelt. Aber es wäre meine Geschichte gewesen.

Langsam begriff ich, als ich den Film wieder startete. Noch mit der scheinbar belanglosesten Geschichte lässt sich Geschichte verändern – und sei es nur die eigene. Solange aber nur ein Jude in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muss, wird niemand frei sein. Daran wollte mich „München“ erinnern.

MICHAEL RINGEL