: Sprachkünstler und Bleisetzer
Die Mülheimer Theatertage: Über den diesjährigen Stückewettbewerb ■ Von Gerhard Preußer
Der Aufsteiger der Saison unter den Stückeschreibern heißt Werner Schwab, und so war leicht vorherzusagen, wer der diesjährige Preisträger im Mülheimer Wettbewerb um den Preis für das beste Stück der letzten Spielzeit sein würde. Schwabs kannibalistische Bierbeiselorgie Übergewicht, unwichtig, Unform war bereits im letzten Jahr preisverdächtig gewesen. Vier seiner Stücke sind bisher aufgeführt, vier weitere angekündigt. Sein nun preisgekröntes Stück Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos wurde bereits nicht mehr am kleinen Wiener Schauspielhaus, sondern in den Münchener Kammerspielen inszeniert.
Schwab verdankt seinen Erfolg einer rabiat verücktspielenden Sprache, einem Kunstdialekt, konstruiert und doch lebendig. Da häufen sich die unbestimmten Artikel vor Abstrakta („Man trinkt sich hinein in ein Verständnis“), bürokratische Sprachfloskeln wuchern („Lebensberechtigungsgutscheine werden massenhaft eingezogen“), die Verdinglichung vernichtet noch die Personalpronomen, das Ich wird zum „Eigenmenschen“, die anderen zu „Menschensachwerten“. Das Ganze ist durchsetzt mit grobem misogynem Unflat („Die Schlammflut, die verfaulte... Die ganze Welt ist voller Löcher“), aufreizend dummen Platitüden („Man wird halt ein alter Mensch, wenn man lange am Leben ist“) und hübsch schrägen Pointen („Wo eine Familie ist, da gibt es keine ungeküßten Menschen“ oder: „Eines Tages bezieht ein jeder Mensch bei einer Liebesbefriedigung eine Wohnung“). Schwabs Sprachbastelei ist aber weder skurril noch verspielt, sondern hat eine berserkerhafte Destruktivität, die Thomas Bernhard als heiter versöhnlichen Klassiker erscheinen läßt. So hat Schwab den Vorteil, ein Markenzeichen zu haben: sein Schwabisch, einen wiedererkennbaren Individualstil, der alle seine Stücke prägt. In Volksvernichtung zumindest ist diese Sprache keine Äußerlichkeit und mehr als bloße Provokation. Sie ist Ausdrucksmittel einer wild halluzinierenden Mutterhaßliebe und einer hohnlachenden Kleinbürger-Vernichtungswut, die mehr als bloße Attitüde sind. Und doch scheint Schwabs Erfolg auch an seine Strategie der Tabuverletzung geknüpft. Und Tabus werden bekanntlich immer rarer.
„Sprachsprache ist besser noch, und zwar um einiges, als Bleigießen“, heißt es bei Schwab, und dem hat die Jury wohl zugestimmt und dem Sprachkünstler Werner Schwab den Preis verliehen und nicht dem Bleigießer Klaus Pohl. Die Abstimmung der Dramaturgien über das wichtigste neue Stück der letzten Saison war ja schon vor dem Mülheimer Wettbewerb längst entschieden: das meistinszenierte Stück der laufenden Spielzeit ist Klaus Pohls Karate-Billy kehrt zurück. Aber dieses politisch so hellsichtige Stück, das die Stasi-Hysterie aufs Korn nahm, ehe sie ins allgemeine West-Bewußtsein gedrungen war, kommt auf so bleiernen Sprachfüßen daher und bedient sich einer so verrosteten Krimi-Dramaturgie, daß man zwar den Zeitkritiker Pohl prämieren kann, aber nicht den Stückeschreiber.
Damit wiederholt sich eine Konstellation, die beim Mülheimer Wettbewerb schon öfters zu beobachten war und die für die deutsche Gegenwartsdramatik der letzten Jahre bezeichnend ist: hie die spitzzüngigen Schauspieler, dort die politischen Bleigießer: Elfriede Jelinek gegen Harald Müller (1987), Rainald Goetz gegen Volker Braun (1988), Thomas Brasch gegen Peter Turrini (1989) und Peter Handke gegen Georg Seidel (1991). Die idealtypischen Kontrahenten trafen allerdings nie aufeinander. Thomas Bernhard war zwar mehrmals vertreten, erhielt aber leider nie den Preis, Rolf Hochhuth wurde glücklicherweise nie nach Mülheim eingeladen.
Diese Konfrontation ist offensichtlich unfruchtbar, man wünscht sich beides kombiniert: das Sprachgezwitscher der Artistenvögel und die donnernden Bleisalven der Politkanonen. Häufig wählte daher die Jury einen Vertreter eines alternativen Mittelwegs, und der hieß schon zweimal George Tabori. Und auch diesmal waren George Taboris Goldberg-Variationen die gewichtigste Konkurrenz für beide Lager. Diese doppelbödige Bilddramatisierung ist ein blasphemischer Scherzartikel, der als Feuerwerk von Frechheiten wunderbar witzesprühend abbrennt, dessen tabusprengende Detonationskraft (in der Inszenierung aus Basel) aber noch ungenutzt blieb. Tabori erhielt die Publikumsstimme.
Die anderen in Mülheim gezeigten Stücke dienten der Vervollständigung des Spektrums; ein neoromantisch-wortwütiges Monodrama über den ertaubten Beethoven (Gert Jonke, Sanftwut oder der Ohrenmaschinist), eine versponnene Phantasie über die Unvergänglichkeit der deutschen Vergangenheit (Michael Zochow, Drei Sterne über dem Baldachin), ein hochartifizielles Sprachspiel über Liebe und Gewalt zwischen Männern (Michael Roes, Aufriß) und eine neckische Etüde im Stil des Konversationsstücks (Philipp Engelmann, Oktoberföhn). Zwei wichtige Farben des Spektrums aber fehlten: kein Autor aus der ehemaligen DDR, keine Frau.
Offensichtlich ging es der Auswahljury aber auch darum, diejenigen Bühnen nach Mülheim zu holen, die sich besonders um neue Stücke kümmern. Thirza Brunckens Probebühne 2 aus Koblenz und Hans Gratzers Schaubühne aus Wien. Daß man in Mülheim solche kleinen experimentierfreudigen Häuser unterstützt, ist auch eine mehr oder weniger erzwungene Reaktion auf die immer häufigeren Absagen der Großen. Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg und das Wiener Burgtheater hatten es abgelehnt, ihre eingeladenen Uraufführungen von Zochow und Tabori nach Mülheim zu bringen. Daß die Gleichzeitigkeit von Berliner Theatertreffen und Mülheimer Stückewettbewerb kein organisatorischer Hinderungsgrund zu sein braucht, bewiesen diesmal die Münchener Kammerspiele, deren Schwab-Uraufführung auf beiden Festivals zu sehen war.
Bewertet werden in Mülheim Stücke, nicht Inszenierungen. Präsentiert aber werden Inszenierungen, nicht pure Texte. Der Stückewettbewerb ist ein Publikumsfestival mit Aufführungen, obwohl das, wofür der Preis verliehen wird, gerade unabhängig von der Aufführung beurteilt werden soll. Dieser paradoxen Konstruktion verdankt das Festival seine einzigartige Stellung. Dieser Widersinn macht Sinn, weil die Funktion des Mülheimer Festivals im deutschsprachigen Theaterbetrieb ja nicht darin besteht, unbekannte Stücke in die Theater zu lancieren (das können Klaus Völkers Berliner Stückemarkt oder jetzt das Wiener Autorentreffen im Schauspielhaus viel besser), sondern darin, ein größeres Publikum für neue Stücke zu gewinnen, die Öffentlichkeit, nicht die Insider, auf wesentliche neue Stücke aufmerksam zu machen. Die Attraktivität für das Publikum schwindet allerdings, wenn nur zweitrangige Inszenierungen gezeigt werden können.
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