: Spionin in der Redaktion
Als erste überregionale Tageszeitung stellt die taz den Druck ihrer täglichen Ausgabe ein. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Mediengeschichte schreibt. tazlerInnen haben aus der bewegten Vergangenheit der Zeitung einen autofikitonalen Agententhriller geschrieben – als Fortsetzungserzählung, weitergereicht über zwei Wochen von einem zur anderen
Von Felix Zimmermann, Simone Schmollack, Konstantin Nowotny, Nicole Opitz, Jasmin Kalarickal, Beate Willms, Svenja Bergt, Anja Mierel, Katrin Gottschalk, Ulrike Winkelmann, Anja Krüger, Andreas Rüttenauer, Sophie Jung, Harriet Wolff, Jens Uthoff und Anne Fromm
Sie musste Stefan anrufen, am besten sofort. Der Abend, ach, die ganze Nacht wäre fast in einem Desaster geendet. Beinahe hatte sie sich verraten. Stefan hatte sie auf diesen Haufen einfach miserabel vorbereitet. Sie musste das bereden. Klären, wie es weitergehen würde, besser: ob es weitergehen kann. Ob sie die Richtige war.
Aber erst musste sie einigermaßen klar reden können. Was würde ihr Führungsoffizier denken, wenn sie völlig verkatert bei ihm anriefe und halbwirres Zeug redete? Außerdem lag dieser Michi neben ihr, der war einfach mitgekommen. Na ja, sie hatten rumgeknutscht und dann hatte sie nichts dagegen gehabt. Wenn es der Sache diente … War ihr noch nie passiert, dass sie so schnell Zugang in eine Gruppe bekommen hatte. Naive linke Westdeutsche. Michi fand sie attraktiv, war ihr den ganzen Abend nicht mehr von der Seite gewichen bei dieser Party. Was genau der Anlass für die Feier gewesen war, war ihr nicht ganz klar geworden – wie so vieles nicht. Manches war aber auch im Dunst permanent kreisender Riesenjoints untergegangen. Und gesoffen wurde da, es war der Wahnsinn.
Sie musste das sortieren: Eine Zeitung hatten sie gegründet, „täglich links und radikal“. Das hatten sie ständig gesagt und, je später der Abend wurde, gelallt, „tällich linggs un ra-addikaal“. Was das aber genau sein sollte, schien niemand zu wissen. Da liefen Trotzkisten rum und grüne Zauselbärte, kurzhaarige Frauen mit Strickpullis, einer wollte „die Arbeiter“ erreichen, in einer Ecke saßen ein paar Typen, die enge Hemden trugen und betont breitbeinig in abgenutzten Polstermöbeln saßen, „die stehen auf Minderjährige, die Pädo-Fraktion“, hatte Michi ihr zugeraunt, andere waren wohl mit einem Bein im Untergrund oder auf dem Absprung.
Einer saß da, der sagte den ganzen Abend nichts, guckte nur leicht spöttisch durch seine runden Brillengläser, trank nur Wasser. Ob der einen Plan hatte? Ein einziges Durcheinander war das, anscheinend durfte jeder mitmachen – und sie sollte sich einen Überblick verschaffen.
„Tazzler“ nannten sie sich, „aber mit zwei Z“, wie Michi sagte, darin immerhin waren sie sich einig. Dass Stefan offenbar auch ziemlich orientierungslos war, zeigte ihre Tarnidentität: Carmen, Tochter eines antifrankistischen Republikaners, der auch in Lateinamerika gekämpft hatte. Das würde diese westdeutschen Linken bestimmt beeindrucken und ihr die Arbeit erleichtern, hatte Stefan vermutet. „Die sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, die kennen gerade mal Che Guevara.“ Und genau das war fatal gewesen! Denn die meisten von denen hatten einen Lateinamerikafimmel.
Die kannten jede Guerillagruppe und sammelten Geld für die Guerilleros in El Salvador. El Salvador, ausgerechnet, da hatte sie echt Lücken. War das die Tendencia Revolucionaria, TR, oder das Ejercito Guerrillero del Pueblo? EZLN? FARC? FMLN? FSLN? Herrje! Sie hatte zu wenig Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Stefans Vorgesetzter im Ministerium für Staatssicherheit hatte gedrängelt: „Wir brauchen endlich Klarheit, was diese Tageszeitung vorhat, auf welcher Seite die stehen.“
Angeblich hatte er sie ausgewählt, weil sie schon in Bonn ziemlich nah an die Naturschutzpartei „Die Grünen“ gekommen war, deren Protagonisten den Obersten aber schnell zu unwichtig erschienen waren: „Es reicht, mehr Müslirezepte brauchen wir nicht“, hatte Stefan ihr übermittelt. Dann war sie abgezogen worden.
Jetzt also: Berlin-Wedding, ein ehemaliger Industriekomplex, die taz und das Chaos. Ein stickiger Raum voller Menschen, Carmen mittendrin. „Jetzt sag schon, wie bewertest du den Einfluss von Ernest Mandel auf die Nationale Befreiungsfront in El Salvador?“ Zum Glück war Michi genau in dem Moment dazugekommen, hatte sie mit seinen flackernden Augen fixiert und sie aus der Gruppe der Sandinisten-Amigos gezogen. „Komm, wir gehen kurz raus“, hatte er gesagt.
Alltag in der Wattstraße
Es war spät geworden gestern, Basisdemokratie halt. Wer am längsten sitzen bleibt, kriegt seine Sachen durch, das hatte Brigitte schnell gelernt. Also blieb sie bis zum bitteren Ende in der Redaktion, im Gegensatz zu dieser Neuen, Carmen. Die schien nur vögeln zu wollen. Brigitte aber durfte nichts verpassen. Also war sie heute wieder die Erste in der Redaktion und setzte sich erst einmal eine Sandinodröhnung auf. Ohne den schwarzen Magenkiller würde aus diesem Tag nix werden.
„Ihr müsst alle zum Heinrichplatz, die Bullen haben gestern …“ Oh Mann, der hatte gerade noch gefehlt: Christian Specht, dieser besondere Kollege. Sprang auf jeder Demo rum, lobbyierte ständig für ein Behindertenparlament, malte Bilder und hängte sie in der Redaktion auf. Seit Neuestem kreuzte dieser Junge jeden Tag hier auf. „Christian, außer uns ist noch keiner da“, versuchte es Brigitte, um schnell davon abzulenken, dass sie selbst auch schreiben könnte. Der junge Mann trug eine hölzerne Kamera um den Hals, die er offensichtlich selbst gebastelt hatte. „Und der schwarze Block, die haben mich ausgegrenzt, das geht gar nicht“, beschwerte er sich.
„Na, komm, Spechti, ich nehm dich schon mal mit hoch.“ Brigitte verschwand mit dem wütenden Christian in die Redaktionsräume. Grüne Ohrringe aus Plexiglas, Strickpullover, spitze Stiefel – ihre Tarnung war gut. Die meisten fanden sie ganz nett, aber auch ein bisschen undurchsichtig. Fundi oder Realo? Bei Brigitte wusste man nicht, woran man war.
Kaum an ihrem Platz, klingelte das Telefon, Durchwahl -212. Puh, Kalle. Klar, der hatte wie Brigitte gestern nur Wasser getrunken und saß schon wieder über den Kontoauszügen. Immerhin, der Einzige in diesem Haufen, der ansatzweise Ahnung von Zahlen hatte. „Ham wir Post von den Anwälten?“, kam es grußlos aus dem Hörer. Was meinte der? Und apropos Anwalt, wann kam eigentlich Ströbele mit den Schrippen?
Revolution vor der Haustür
Hektisch kramte Carmen in der Tasche. Wo war dieser Kajal? Ohne einen neuen Lidstrich konnte sie sich in der Redaktion nicht blicken lassen. Wenn ihre Kollegen sehen würden, dass sie die ganze Nacht geheult hatte, wäre sie enttarnt.
Es waren jetzt schon fünf Monate, die die taz in der Kochstraße saß, gleich beim Checkpoint Charlie. Carmen fiel es immer noch schwer, hier zu arbeiten. In Sichtweite des antifaschistischen Schutzwalls. Aber der war jetzt eh Geschichte. Letzte Nacht waren sie auf ihm rumgesprungen wie auf einem Klettergerüst. Diese Idioten.
Klar, es hatte sich abgezeichnet, dass etwas ins Rutschen gerät. Die große Demo auf dem Alex, das neue Politbüro. Aber der Schutzwall, kaputt? Carmen konnte nicht fassen, wie man so leichtfertig alles hinter sich lassen konnte, woran sie geglaubt hatten.
„Guten Morgen, meine Sonne“, rief es hinter ihr. Sie erkannte die Stimme sofort. Christian. „Die Mauer ist weg, Carmen.“ „Ja.“ Mehr brachte sie nicht hervor. Mit Christian verband sie eine Hassliebe. Er war es, der ihr immer widersprach, wenn sie versuchte, Texte über die wahren Verhältnisse im real existierenden Sozialismus in der Zeitung unterzubringen. „In der DDR gibt’s ja nicht mal freie Radios“, hatte er ihr an den Kopf geknallt. Andererseits war er der Einzige unter diesen bürgerlichen West-Linken, der noch immer von einer echten Revolution träumte.
Denn davon hatten sie hier keine Ahnung. Die taz war ein Haufen Linksextremisten, ohne klare politische Linie. Ihr Blick auf die DDR? Kleinbürgerlich-anarchistisch, ohne Verständnis für die Erfordernisse und Probleme des sozialistischen Aufbaus. So hatte sie es Stefan ins Ministerium durchgegeben.
Christian schob Carmen in das Treppenhaus. „Los, wir müssen eine Zeitung machen“, sagte er. Nur wie sollte ihr das heute gelingen? Die DDR war am Ende. Wenn jetzt auffliegt, dass sie gar nicht Carmen, die Journalistin aus Marburg war, was würden diese Links-Chaoten dann mit ihr machen?
Carmen drehte um und schwang sich auf ihr Rad. Sie raste durch die jubelnden Massen am Grenzübergang Checkpoint Charlie. Wahnsinn, was hier los war. Über den Alex, immer gerade aus. Vor dem Plattenbau in der Magdalenenstraße parkte sie ihr Rad. Sie nahm drei Treppenstufen auf einmal, bis sie oben angelangt war. Hauptabteilung XXII, zuständig für Terrorabwehr. Dort waren ihre letzten zehn Jahre in der taz archiviert. Einschätzungsberichte, Observationsprotokolle, Charakterstudien der taz-Mitarbeiter.
Stefans Büro war leer. Carmen riss die Akten aus dem Schrank. „Registriernummer XV 1268/86“, stand handgeschrieben auf der ersten. Carmen schmiss den Schredder an und gab das Papier seinen Klingen hin. Als sie alle 42 Akten vernichtet hatte, ließ sie sich in Stefans Sessel fallen. Im Spiegel sah sie ihr erleichtertes Gesicht. Noch einmal zog sie ihren Lidstrich nach. Sie würde nun zurück in die taz fahren und Zeitung machen. Sie würde die abgeklärte West-Linke geben, aufgekratzt von dieser historischen Nacht. „Die Mauer tritt zurück – Wann geht Kohl?“, wäre das nicht eine gute Zeile für die Seite 1 morgen? Und sollte die taz jetzt nicht schnell ein Büro in Ost-Berlin gründen? Das musste sie gleich Kalle erzählen.
Eine für alle
Rumms! Da war es wieder. Rumms! Carmen zog sich das Kissen über den Kopf. Sie musste nachdenken. Wieder krachte es, „Ha!“, brüllte jemand. Warum war sie bloß hier in die Linienstraße gezogen? Und warum mussten sich diese Hausbesetzerinnen immer Neues einfallen lassen?! Erst wollten die Frauen eigene Räume. Und jetzt waren sie dabei, die Wände zu durchbrechen, Privateigentum ist der Beginn alles Bösen, sagten sie. Oder so. Da hatte sie beim Plenum nicht mehr hingehört. Denn gerade vorher hatte dieser Emil, wegen dem sie ihre taz-Auszeit hier verbrachte, etwas erzählt, das vielleicht neue Wege öffnete.
Die Ost-taz war ein Reinfall gewesen. Sie hätte hier alle Zelte abbrechen sollen. Aber irgendwie hatte sie sich in der taz vertändelt und das große Ganze aus den Augen verloren. Ein bisschen Abstand war nötig gewesen. Sie würde ein Buch schreiben, hatte sie erzählt. Die Linienstraße war ihr dafür als guter Ort erschienen. Hier hatten viele Tarnnamen, alle waren irgendwie antikapitalistisch, antifaschistisch, feministisch – wie in der taz, nur linker. Diskutiert wurde leider genauso viel.
Aber nun hatte also Emil, der ab und zu für die taz schrieb, erzählt, dass die tazzler eine Genossenschaft gegründet hatten, natürlich war es wieder Ströbele gewesen, der das durchgesetzt hatte, unterstützt von Kalle, dem Pfennigfuchser. Fast dreitausend Leser hatten insgesamt drei Millionen Mark dafür aufgebracht – drei Mios! Unfassbar.
Emil hatte erzählt, dass sich noch mehr geändert habe, Michi jetzt „Chefredakteur“ sei, zusammen mit Elke. Und dass es Ressort- und Abteilungsleitungen gab. Carmen ruckte hoch. Leitung, das klang doch gut. Und dieser Typ, der dieses neue, angeblich einzigartige „Öwi-Ressort“ hatte haben wollen? Genau: Hermann. Der war doch sicher auf der Suche nach guten Leuten. Mit Emil war sie eh durch. Zeit, um ihre Rückkehr zur taz vorzubereiten.
Die Nachwehen der RAF
Brigitte seufzte, die immer gleichen Diskussionen über das von der RAF in die Luft gesprengte Gefängnis bei Weiterstadt gingen ihr auf die Nerven. Ob das eigentlich in Ordnung sei, weil niemand verletzt wurde? Ob das nicht sogar notwendig sei, weil ein Hochsicherheitsgefängnis sowieso viel zu unmenschlich sei? Ticken die noch ganz richtig? Sie war ja ganz froh, dass sie ihr mageres taz-Gehalt mit ihrer Tätigkeit als V-Frau aufstocken konnte, aber sie war sich nicht sicher, wie lange sie es hier noch aushalten würde.
Anfangs fand sie die Diskussionen in der Redaktion ja noch drollig: Darf man noch Haarspray benutzen oder Kühlschränke haben, wenn das das Ozonloch vergrößert? Ist das überhaupt ethisch vertretbar, so eine gedruckte Zeitung auf Papier, wenn der Wald doch stirbt? Und sind Produktionen ohne Setzer politisch korrekt?
Brigitte schüttelte den Kopf, sie war ja eigentlich mal selbst so gewesen – naiv und links. Die Welt verbessern wollend. Aber irgendwann ist es Zeit, erwachsen zu werden. Andererseits waren die Typen beim Verfassungsschutz auch nicht ohne. Mitten in ihre Gedanken platzte Christian Specht. „OKAY“, rief er. „Die haben Radio 100 abgewickelt, einfach so! Frechheit. Weißt du was dazu?“ Brigitte wusste es nicht. „Ruf mal den Semler an, der weiß so was!“
Brigitte griff zum Hörer, aber Christian Semler ging nicht ran. Glück gehabt. Ihre neue On-off-Beziehung verunsicherte sie. Jetzt schnell weg. Auf dem Weg nach draußen stolperte Brigitte noch über Ralph am Empfang. Sein Schwarzer-Krauser-Tabak stank fürchterlich, aber sein sonores „Tschüs“ beruhigte sie.
Der wahre linke Journalismus im Lokalen
Das kann doch nicht wahr sein, dachte Brigitte. Als Mitglied des Berlin-Ressorts war sie Auseinandersetzungen zwischen den KollegInnen für die lokale und denen für die überregionale Politik ja gewohnt. Jetzt aber war sie zu Besuch beim Lokalteil in Hamburg und konnte es nicht fassen. Die waren sogar noch mehr davon überzeugt als die Berliner, den einzig wahren linken Journalismus zu machen! Jeder zweite Satz in der Konferenz begann mit: „Die Irren in Berlin haben schon wieder …“, und dann kam eine Ausführung dazu, warum man sich in Gorleben viel besser auskenne als die Überregionalen, oder warum die Geschäftsführung nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.
Ihre Verfassungsschutzleute in der Kölner Zentrale hatten sie hergeschickt, weil die dachten, womöglich sei der linksradikale Selbstanspruch der taz-Lokalen ein Hinweis auf echte Connections in den terroristischen Untergrund – doch davon konnte sie hier nicht viel feststellen. Vielleicht würde sie sogar früher als gedacht nach Berlin zurückfahren. Die interessantere Frage war für sie seit geraumer Zeit ohnehin, was Carmen mit ihrem „Buchprojekt“ gemeint hatte – war das womöglich ein Tarnbegriff? Sie wurde aus der Frau nicht schlau.
Ein weiterer Lokalteil
Carmen saß im Sale und wartete. „Einen Grappa aufs Haus?“, fragte Piero, aber sie lehnte ab. Ihr war schlecht. Sie war mit einem Ex-Mitbewohner abends noch durch die Clubs gezogen. Eimer, WMF, Cookies. Jetzt starrte sie verkatert auf die Tischdecke.
Sie hatte ja eigentlich den Absprung aus der taz schaffen wollen nach der kurzen Zeit bei den Öwis. Jeden Tag BSE, Braunkohle und Bitterfeld, es hatte sie einfach deprimiert. Auch Hermann hatte sich schnell verabschiedet, hatte wohl was Besseres gefunden. Aber die taz ließ sie nicht los, es war, als wäre sie von einem Kokon umgeben, und langsam glaubte sie, die Fäden würden sich immer fester um sie zuzurren. Dabei hatte diese Brigitte sie von Anfang an gewarnt: „Einmal drin, kommst du nie wieder raus.“ Jetzt kam ihr der Satz vor wie eine Prophezeiung.
Immer wieder meldeten sich irgendwelche Leute aus der Redaktion bei ihr. Kannst du was zu Genua schreiben? Hast du eine Meinung zum Dosenpfand? Erst vor ein paar Tagen hatte diese Frauenredakteurin Heide bei ihr angerufen. Die Breitbeinigkeit von Schröder und Fischer sei unerträglich, Rot-Grün hätte nichts gelernt aus 16 Jahren Kohl, ob sie nicht eine Kolumne darüber schreiben wolle. Arbeitstitel: Aufschrei. Sie entschied sich für ihre Standardausrede: „Ich kann nicht, ich sitze doch an meinem Buch.“
Endlich kamen sie. Andi stellte das Motorrad ab, Kalle hintendrauf ohne Helm. „Pass auf, Carmen“, sagte Andi zur Begrüßung, „wir brauchen dich.“ Kein Wort darüber, dass sie eine halbe Stunde hatte warten müssen. „Bei der taz macht jeder, was er will“, sagte Andi, „so kann das nicht weitergehen.“ Dann hielt er einen langen Monolog, sprach über die Redaktionszellen an der Ruhr, in Köln und Münster, er blicke gar nicht mehr durch. „Vielleicht trifft die Zeitungskrise ja auch uns?“, sagte Kalle, in seinen Vortrag hineingrätschend.„Jedenfalls: Es muss mal aufgeräumt werden“, sagte Andi. „Und da kommst du ins Spiel.“
Ein neues Jahrhundert
Ein schriller Schrei. Carmen setzte sich im Bett auf. Sie stand auf und trat ans Fenster. Die Straße war leer. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie realisierte, dass der Schrei nicht von dort stammte – sondern von ihr selbst.
Manchmal kam er noch, dieser Traum. Der Traum, der sie nachts wach werden ließ, so wach, dass alleine die Idee, sie könne irgendwann wieder einschlafen, wie ein zynischer Vorschlag klang. Was den Traum so verstörend machte: Er knüpfte an das an, was passiert war, vor etwas über einem Jahr. Carmen war damals nach einer langen Nacht morgens in ihre Wohnung zurückgekehrt, die wie ein einziger Vorwurf war: die Lügen, die Fake-Beziehungen zu Menschen, von denen ihr manche mittlerweile vertrauter waren als ihre Familie.
Doch als sie den Fernseher anschaltete, in der Hoffnung auf ein ablenkendes Musikvideo, am besten von dieser jungen Frau mit den langen blonden Haaren, wie hieß die noch gleich, Brittany? Mensch, dachte Carmen, sie würde langsam alt. Da jedenfalls sah sie live, wie ein vollbesetztes Passagierflugzeug ins World Trade Center flog. Vielleicht waren es irgendwelche LSD-Reste der letzten Nacht in ihrem Körper, die dazu führten, dass sie diese Szene immer wieder heimsuchte. Immerhin hatte sie dieses Mal nicht dringesessen.
Carmen füllte Kaffeepulver in einen Filter. Filter. Sie war nicht nur alt geworden, sondern auch spießig. Und das war nicht mal das Schlimmste: Nach gut 20 Jahren in dieser taz wusste sie nicht mehr, wer sie eigentlich war. Sie konnte sich kaum noch an ihren echten Namen erinnern. All ihre sozialen Kontakte waren dort. Und nun hatte sie sogar eines der letzten Tabus gebrochen: Nein, nicht Sex. Don’t fuck the company, das galt vielleicht in den USA, aber doch nicht in Berlin. Sie war mittlerweile so verstrickt in das Ganze, dass sie maßgeblich dazu beigetragen hatte, auf Bitten der Geschäftsführung den NRW-Lokalteil aufzubauen. Und nun stand das 25-jährige Jubiläum der Zeitung an. Höchste Zeit, den Abgang zu planen. Nur wie?
Die Blüte des Lokalteils NRW
Sie stellte das Kölschglas auf den Tisch und blickte in die glasigen blauen Augen eines Lappenclowns. Kalle hatte Carmen mit einem hübschen Budget ins Rheinland geschickt, um den Kolleg:innen von der taz-Köln mit der Einladung auf ein paar Bierchen seine Wertschätzung auszudrücken. Zu blöd, dass sie ihren Besuch ausgerechnet auf den Donnerstag vor Karneval gelegt hatte. Der Lappenclown war schon in der taz-Köln-Redaktion über der Tabledance-Bar, als sie dort eintraf. Kein Mensch kannte ihn. Er schloss sich der Kneipentour durchs Friesenviertel an, die tazzler:innen nahmen ihn freundlich auf.
Jetzt waren er und Carmen übriggeblieben. Der Lappenclown behauptete, schon seit 1975 die taz abonniert zu haben, und wollte partout nicht glauben, dass das nicht sein konnte. Er würde aber auch den Stadt-Anzeiger lesen, sagte er. Carmen lachte. Stadt-Anzeiger! Den ganzen Abend hatten sich die KollegInnen über dessen neuen Chefredakteur amüsiert. Das Blatt hatte geschrieben, der Mann habe 10 Jahre evangelische Theologie studiert. Dabei war er in dieser Zeit Chef der Roten Blätter gewesen. Früher Kommunist, heute Ordoliberalist – oder doch Opportunist?
Irgendwie hatte der Chefredakteur mitbekommen, dass die Redaktion ein Porträt über ihn plante. Nicht nur Bascha hat einen Anruf von ihm bekommen, um das Erscheinen zu verhindern. Wie naiv kann man als Chefredakteur sein?, fragte Carmen sich. Natürlich war das Porträt doppelt so groß erschienen wie ursprünglich geplant. Und freundlicher fiel es auch nicht aus.
Der Lappenclown hatte den ganzen Abend aufmerksam zugehört. Aus der Seitentasche seiner mit Stofffetzen übersäten Jacke lugte ein beschriebener Notizblock. Carmen zog die Augenbrauen hoch. Wer war dieser Mann? Hatte der Stadt-Anzeiger aus Angst vor weiteren Enthüllungen einen Spitzel eingeschleust?
Ein anderer Sound
Zurück in Berlin stand Christian mal wieder vor Carmens Schreibtisch und wollte eine Unterschrift von ihr. Hatte sie jetzt gerade für die Rettung der Berliners Polizeiorchesters unterschrieben? Oder für dessen Auflösung? Oder war es um einen Behindertenbeauftragten für den Bezirk gegangen? „Das geht gar nicht“, sagte er und sie gab ihm recht, obwohl sie wirklich nicht wusste, was er gerade meinte. Doch auch wenn sie oft nicht verstand, was Christian umtrieb, so schätzte sie ihn doch als Konstante in diesem merkwürdigen Betrieb.
Neulich hatte sie sich mit einem Kollegen über einen Text gestritten. Es standen merkwürdige Dinge in der Zeitung: über Jeans aus Neukölln zum Beispiel und was die Hosen über die deutsche Nachwende-Gesellschaft aussagen. Oder warum es okay war, in einem schwedischen Möbelhaus zu frühstücken. Immer mehr Leute, denen man ansah, dass sie wussten, wie man auszusehen hatte, arbeiteten mittlerweile im Haus. Die Leute, die ausstrahlten, sie wüssten, was man zu denken hatte, waren zur Minderheit geworden.
Manchmal fragte sie sich, was sie wohl berichten würde, wenn es den Osten noch gäbe. Wahrscheinlich würden ihre Führungsoffiziere ebenso dämlich dreinschauen wie der Geschäftsführer, als sie ihm den Notizblock gab, den sie dem Lappenclown neulich in Köln aus der Tasche gezogen hatte.
Weg vom Lokalen
Carmen rutschte auf dem unförmigen Sitzgymnastikball von Thomas hin und her. Der ganze Stolz des Mathegenies. Die drei Buchstaben NRW und alles, was für die taz dort, aber auch in Berlin auf dem Spiel stand, erschienen ihr plötzlich so fern wie nah. Eine einzige immerwährende Redaktionskonferenz, das war diese Zeitung. Auch die Männer hörten nie auf zu reden. „Einmal drin, kommst du nie wieder raus, immer wieder rein und immer wieder taz …“ Brigittes Manta, nein, Mantra.
Wie stets, wenn es in ihrem Leben richtig zur Sache ging, musste Carmen schmunzeln. Aber was bloß war hier die Sache? Hinter Kalles karger Schreibtischhälfte stand an der Wand und in mehr oder weniger großen Lettern, die er dafür mal per Schere der FAZ entnommen hatte: „Der Journalismus lebt im Netz weiter.“
Kalle hielt den Lappen gegen das Licht. Der ominöse Notizblock des Lappenclowns, ein Wiedergänger des Kölner Urgesteins Willy Millowitsch, war nur ein Lappen. „Wertlos“, Kalle schnippte das Stück Papier so verächtlich wie gezielt zum offenen Fenster der taz-Verlagsetage an der Charlottenstraße hinaus. Mann, war das heiß hier nach Südwesten gelegen!
Die neue Onlineredaktion
Zu Hause angekommen schmiss Brigitte den Föhn an und hielt ihn über das Notizheft, das ihr auf dem Weg heim direkt in die Hände geflattert war. Das konnte doch kein Zufall sein! War das nicht Kalle oben am Fenster gewesen? Unter dem Surren des Föhns färbte sich die Schrift braun. Das hier war kein leeres Papier, nein, das war ein ganzer Block mit verschlüsselter Geheimschrift. Vielleicht eine Codierungsmethode der Stasi? Ob die im Jahr 2008 noch geheim operierten? Keine Ahnung. Sie musste die Zentrale kontaktieren.
Vor zwei Wochen erst hatte sie Paul vom Verfassungsschutz abgefangen und ihr erklärt, dass sie als V-Frau jetzt langsam mal Infos liefern müsse, zu ausländischen Geheimdiensten, Linksextremisten, egal was – es gab Kürzungspläne. Die Zeit drängte. Den Lokalteil in NRW hatte die taz letztes Jahr plattgemacht. Gut möglich, dass der Berlin-Teil als nächstes dran war. Dann wäre sie gleich zwei Jobs auf einmal los. Vielleicht könnte sie sich in der neuen Onlineredaktion bewerben, dachte Brigitte.
Bislang waren all ihre Bemühungen ins Leere gelaufen – dabei hatte sie auch die Räume der Chefredaktion aufwendig verkabelt und abgehört. Umstürze? Eher nicht. Ihre heißeste Spur war der neue Redakteur im Berlin-Teil, Sebastian Heiter oder so, den hatte sie beobachtet, wie er nachts an verschiedenen Rechnern hantierte. Ansonsten erschien ihr die taz wie ein Haufen bürokratischer Sesselfurzer-Revolutionäre.
Neulich hatten sie ewig diskutiert, ob sie Redezeiten von Männern und Frauen in Konferenzen erfassen sollten. Nur als die Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wurde, an dem Tag hatte Christian Ströbele „Entmachtet Springer!“ gerufen, und da wurde am Abend mal wieder richtig gefeiert. Brigitte hatte später mit Carmen unten im taz-Archiv rumgemacht. „Ick bin in jeheimer Mission unerwegs“, hatte ihr Carmen ins Ohr geflüstert.
Die Transformation beginnt
Die Frau hatte sie nie interessiert, aber nach dieser Nacht konnte sie nicht aufhören, an sie zu denken. Carmen. Wie konnte sie all die Zeit übersehen, dass Carmens Männerliebschaften nur ein Spiel waren?
Carmen war das Gegenteil von langweilig. Sie redete kaum über ihre Vergangenheit, kaum über die Zukunft – sie war immer im Jetzt und völlig interessiert an allem, was in der taz geschah. Die taz war ihre Leidenschaft. Als Brigitte ihr einmal sagte, dass das vielleicht ein bisschen obsessiv sei, antwortete Carmen: „Einmal drin, kommst du nie wieder raus – das hast du mir mal gesagt.“
Es fiel Brigitte schwer, Carmen nicht an ihrem Fund teilhaben zu lassen, zumal dessen Entschlüsselung sie nun schon einige Jahre kostete. Dieser scheiß Block aus Köln – es war schwer, dessen Nachrichten zu decodieren, Brigitte saß Jahre daran. Sie konnte die Worte extrahieren, aber nur schwer deren Bedeutung verstehen. Sie hatte keine Ahnung von html, W3-Servern oder irgendwelchen daemons. Und sie verstand auch nicht, wie es dieselbe Person sein könnte, die Tim Berners-Lee im Cern überredete, das World Wide Web für die Öffentlichkeit freizugeben und nur zwei Jahre später die taz als erste Tageszeitung in Deutschland komplett jeden Tag ins Netz zu stellen. Wer sollte das sein?
Die Entwicklung nahm ihren Lauf. Die Gesellschaft veränderte sich, gedruckte Tageszeitungen wurden immer weniger gelesen. Alles wurde digitaler, Brigitte kam nicht mit. Und sie verstand nicht, was dieser Block mit all dem zu tun hatte. Sie musste es Carmen sagen, sie hatte schon immer mehr von technischen Dingen verstanden. Carmen war es, die der Geschäftsführung der taz nach dem NRW-Debakel sogar eingeflüstert hatte, dass der einzige Weg ins Digitale führt – auch wenn Kalle es ihr erst glaubte, als er es in der FAZ gelesen hatte.
Brigitte erschrak, als sie Carmens Gesicht kreidebleich werden sah. „Wo hast du das her?“, zischte sie. Die Luft um sie erkaltete. Noch während Brigitte von ihrem Fund erzählte, rausgeworfen vor Jahren aus Kalles Fenster, voller Indizien, die auf eine einzelne Frau zuliefen, stapfte Carmen durch die Wohnung auf sie zu. Brigitte war überrascht, wie professionell Carmen versuchte, sie niederzuringen. Sie waren beide nicht mehr die jüngsten, aber Brigitte hatte sich länger fit gehalten. Sie musste jetzt überleben. Sie schaltete um – und Carmen aus.
Sprung in die Gegenwart
Jahre später klopfte es an der Tür. Brigitte öffnete, draußen stand ein Typ mit zerzausten Haaren und schlabbriger Hose. „Ich weiß, wer du bist“, sagte er. Diese Stimme, dieser Dialekt, er kam ihr bekannt vor. Dann schoss es ihr wie ein Blitz ins Gehirn: „Ich weiß auch wer du bist, Stefan.“
Ja, so hieß er doch, Stefan. Dieser undurchsichtige Typ damals, mit dem sie Carmen öfter zusammensitzen sah und der schließlich bei der Ost-taz mitgemacht hatte. Nicht einmal vier Monate, von Ende Februar bis Anfang Juni 1990, aber alle dachten, die Ost-taz lief jahrelang. Wahrscheinlich, erinnerte sich Brigitte, weil die so irre Sachen gemacht hatten, über die noch Jahre später wild diskutiert wurde, Stasi-Listen veröffentlicht zum Beispiel. Also keine Namen, aber Adressen von Stasi-Wohnungen.
Brigitte machten diese Enttarnungen damals Sorge, aus Eigeninteresse. Immer musste sie in den Frühkonferenzen sagen, wie super sie die Ost-taz fand, aber vor allem hatte sie Angst, dass auch ihre konspirative Wohnung in der Rykestraße in Prenzlauer Berg aufflog.
Sie erinnerte sich an diesen Stefan mit seinem stalinistisch korrekt sitzenden Hemdkragen, wie er bei den Redaktionssitzungen saß, sein Lächeln vielleicht listig, vielleicht verschmitzt, um dann aus dem Nichts die besten Thesen rauszuzischen. Er blieb noch eine Weile in der taz, aber irgendwann war er einfach wech, verschwunden. Kam auch vor bei der taz. Er soll in der Medienberatung Karriere gemacht haben.
Als Brigitte neulich mit dem Rad zum Step-Aerobic hetzte, hinter der bonzigen Leipziger Straße entlang dieser neuen Townhouses, wo die Kinderschaukeln im Vorgarten und im Schatten des Auswärtigen Amts stehen, da meinte sie, ihn doch gesehen zu haben. Sein Hemdkragen dann Federal Style. Aber er strahlte Stasi aus.
Brigitte hatte mitllerweile den Großteil ihrer Redaktionsarbeit an jüngere KollegInnen verschoben hatte, recherchierte – und behielt Recht. MfS. Seine Verbindung mit Carmen, alles ergab Sinn. Gut war er durch die Wende gekommen, hatte in seinem neuen Leben zwischen Doppelgarage und Ledersessel so eine seltsame Sammelleidenschaft entwickelt. Weil er in seinem alten Leben so viel Papier geschreddert hatte, musste er jetzt alles Bedruckte sorgfältig aufheben, archivieren und dokumentieren. Sein liebstes Sammelstück: Die letzte gedruckte Ausgabe einer Zeitung.
Wie alles endet
Genau eine solche hielt Stefan jetzt in der Hand. Die letzte gedruckte Ausgabe der taz. Hastig faltete er die raschelnden Seiten auseinander, um dann auf einen Artikel zu deuten. Brigitte neigte sich dem Papier zu.
Die letzte Print-taz sollte ein großes publizistisches Feuerwerk werden, damit die LeserInnen es ihrer geliebten Tageszeitung nicht allzu krumm nahmen, dass diese nun aus Kostengründen werktags rein digital erschien. Die Ausgabe war voller Texte zum Thema Solidarität und Aufbruch. „Spionin in der Redaktion“ hieß der Artikel, der einem in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufkommenden Gerücht nachging, in der taz hätten sich Geheimdienstler aus Ost- und Westdeutschland installiert.
Brigitte kannte den Text, es war ja ihrer. Zwar hatte sie ihn nicht vorgeschlagen, sich dann aber schleunigst als Autorin angeboten, damit nicht wirklich noch einer zu recherchieren begann und vielleicht auf etwas gestoßen wäre. Sie führte in dem Text verschiedenste Indizien und Details auf, die nirgendwohin führten, kam sich aber besonders schlau dabei vor, die potenzielle Spionin ausschließlich im generischen Femininum zu beschreiben. So würden alle damit beschäftigt sein, sich über das Gendern Gedanken zu machen und warum sie auch als Linke echte Spionage nur Männern zutrauten. So würde der Verdacht allzeit weit weg von ihr liegen und dieser Abschnitt ihres Lebens Geschichte werden, genau wie das Altpapier, auf dem die Story gedruckt war.
Stefan schien aber etwas bemerkt zu haben. Irgendwie war dieser Artikel zwar skurril, aber doch recht kenntnisreich dafür, dass am Ende so gar nichts dran sein soll am Mythos von der V-„Frau“ in einer linken Tageszeitung. Ein Notizblock mit Geheimschrift, mitgeführt von einem ominösen Clown? Radio 100? Die Roten Blätter? Kalle? Andi? Riesenjoints, LSD und das Berliner Polizeiorchester? Die FARC? So was konnte doch nur eine schreiben, die wirklich alles in der taz schon gesehen hat. Und warum genau sollte man eigentlich alles Mögliche über so einen Laden so genau aufschreiben, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, dass es alles überhaupt nicht interessant sei?
Brigitte begann, ein wenig nervös zu werden, entspannte sich aber recht schnell wieder, als sie ihre eigenen Zeilen las. Das klang doch alles so irre, so unwahrscheinlich und unglaubwürdig. Und außerdem war es ewig her. Selbst wenn Stefan nun überall rumerzählen sollte, dass sie die Spionin war, würde ihm das doch jetzt kein Mensch mehr glauben.
„Du hast Recht“, sagte sie, „aber Papier vergisst.“ Mit einer flinken Handbewegung schnappte sie sich die Seite mit dem Artikel aus Stefans Hand und schlug die Tür zu. Soll er erst mal zusehen, wo er jetzt einen weiteren gedruckten Beweis für seine Verschwörungstheorie herkriegt. Außerdem wollte sie die Printseite mit dem Artikel gern in ihr Privatarchiv legen, sie fand ihn immer noch gelungen. „Das muss man erst mal so schreiben, dass es voller Fakten ist und dann doch zu nichts führt, richtig tazzig“, dachte sie und kicherte, während sie sich von der Tür entfernte, von der sie Stefans aufgeregtes Klopfen leiser werden hörte.
Am Abend schaute sie nach, ob der Artikel eigentlich jemals online gegangen war. Sie fand ihn nicht. Irgendwas musste wohl schiefgegangen sein in den aufregenden Wochen der Produktionsumstellung. Wie nannten sie es noch mal, „Seiten-Wandel“, „Blätter-Ende“?
Brigitte ging beruhigt ins Bett. Mag sein, dass das Netz nicht vergisst, aber nachdenken tut es auch nicht. Kein Mensch würde je auf diese Story stoßen, vielmehr würde sie in irgendwelchen Sammlerarchiven verstauben. Und wer blättert schon ein E-Paper durch? Toll, diese Digitalisierung.
Leicht dämmernd dachte sie über ihre Zeit bei der taz nach. Der Mauerfall. Die Berlin-Redaktion. Die Zeit in Hamburg. Der Umzug in die neuen Redaktionsräume am Checkpoint Charlie. Carmen. Die vielen Partys.
Seiten und Tastaturen, Bildschirme und Kaffeetassen, Flaschen und Zigaretten waberten durch einen beginnenden Traum. Hin und wieder glaubte Brigitte, die durchdringende Stimme von Christian Specht zu hören.
Aber ansonsten: War diese Zeitung noch wiederzuerkennen? War der wahre Wiedererkennungswert von diesem Laden nicht, dass er gar keinen haben wollte?
Wie hieß es gleich? Täglich, links und …
„Radikaaaal“ hörte sich Brigitte mit geschlossenen Augen laut auflachen.
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