Spinnen - oder nicht: Pfui, Scheuerl!
Kein Schade ist, dass die Hamburger Netzwerk-Ini ihre missglückte Karikatur einstampft. Unerträglich jedoch, dass ihr Gegner dafür die lange Geschichte des Spinnen-Motivs ausradiert - zugunsten eines obskuren Nazi-Illustrators.
Hässlich? Ach, das ist zu subjektiv. Aber an der Spinnen-Postkarte der Initiative „Unser Hamburg – unser Netz“ lässt sich echt viel aussetzen, und zweifellos gehört dazu, wie ungelenk die Grafik ausgefallen ist: Wenn es eine Kaltenkirchener Ini wäre, ließe sich darüber ja verständnisvoll hinwegsehen.
Aber Hamburg ist keine Provinz. Dort residieren wichtige Comic- und Kinderbuch-Verlage, mehrere Hochschulen bieten die Fächer Kommunikations- und Grafikdesign, Malen und Zeichnen an, und angeblich unterstützen auch örtliche Kreative die Verstaatlichungs-Ini, Musiker und Künstler. Sind denn nur die schlechten fürs Gute?
Peinlich auch, dass der BUND Hamburg als Mit-Initiator der Postkarte voll auf Spinnen-Ekel setzt, während der BUND Deutschland liebevoll gestaltete Steckbriefe bedrohter Arachniden online publiziert und andere Landesverbände „spannende Spinnenexkursionen“ anbieten. An der sollten die Hamburger auch mal teilnehmen - schließlich schmälert die zoologische Zweifelhaftigkeit des Witzbildchens auch seine Botschaft: Ganz ohne Vorbild ist, dass sich zwei Spinnen dasselbe Netz teilen: Kommt es jetzt zu Spinnen-Sex, also Unternehmensfusion? Oder erledigt die eine die andere? Und mit welchem Recht beanspruchen wir ein Netz, dass doch eine der Spinnen gewebt haben dürfte, als unseres?
Ja, es hätte gute Gründe gegeben, diese Postkarte einzustampfen. Doch dass die Ini es tut, um sich „von jeder Nähe“ zur NS-Propaganda „zu distanzieren“ – das ist ein Treppenwitz. Grund dafür ist, dass der Schulausschussvorsitzende der Hamburgischen Bürgerschaft, Walter Scheuerl, behauptet, googelnd zum Ursprung eines Bild-Motivs vorgestoßen zu sein – just in dem Moment, als er dessen plumpe Kontrafaktur durch Nazi-Zeichner Philipp Rupprecht alias Fips entdeckt hat. Mit der Behauptung, ihre Spinnen-Karikatur stamme aus dem Hetzblatt Der Stürmer, hat Scheuerl die Netz-Ini zur Nachfolgerin der Tyrannei karikiert: „Wer eine derartige Spinnen-Zeichnung in Kenntnis ihres widerwärtigen historischen Ursprungs verwendet“, so Scheuerl wörtlich, „zeigt, dass ihm jedes Mittel zur Umsetzung seiner politischen Ziele recht ist.“
Das ist Unfug. Denn die Verwendung der Spinne als eines polemischen Emblems war kein origineller Einfall der Nazis, und ihr Auftauchen im Stürmer war weder ein Höhe- noch der Endpunkt der Motivgeschichte. Im Gegenteil: Gerade die Anti-Nazi-Karikatur des Zweiten Weltkriegs greift es oft auf – ohne dafür die Stürmer-Jahrgänge zu durchforsten. Mehrere bewahrt das US-Holocaust-Museum in seinem Foto-Archiv auf, düstere Zeichnungen aus Exilzeitschriften um 1935, aber auch noch die 1947 erschienene erste Nummer des in Ivrit verfassten Magazins Eden. Dessen Cover zeigt idyllische Szenen der Auswanderung nach Israel, die in einem ovalen Kranz rund um den Schriftzug angeordnet sind – das rechte untere Bildfeld aber ist dem Schrecken der Verfolgung vorbehalten. In ihm lauert, vor einer KZ-Anlage, eine Hakenkreuz-Spinne in ihrem Netz.
Von 1933 bis Kriegsende trug die Spinne auch ein Gesicht: das von Hitler. Ihre bekannteste Version ist die von Kimon Evan Marengo alias Kem. Der 1904 im ägyptischen Zifta geborene Zeichner war 1939 endgültig von Paris nach England übergesiedelt. Im Dienst des Ministry of Information zeichnete er Postkarten und Plakate, die als Klassiker der psychologischen Kriegsführung gelten.
Mit das berühmteste Poster ist „One By One, His Legs Will Be Broken“ von 1941, das auch in einer französischen und einer arabischen Fassung existiert: Die Hitlerspinne hockt auf einer Weltkugel mit orangenen Kontinenten und weißem Meer. Ihre Beine erreichen Norwegen, greifen übers Schwarze Meer nach Griechenland, durchqueren Frankreich bis zum Atlantik und berühren die Sahara. Doch britische Schiffe beschießen sie vor Afrika, sowjetische Panzer zermahlen sie im Osten, und von links schwärmen aus dem nachtblauen Himmel US-Bomberverbände heran.
Seither ist das Motiv nicht verschwunden – was damit zusammenhängt, dass wir die Metapher des Netzes auf immer mehr Bereiche der Lebenswirklichkeit anwenden, von der Infrastruktur bis hin zum Terrorismus: Franz-Josef Strauß wurde ebenso als Spinne dargestellt wie Osama bin Laden, Icann-Präsident Rod Beckstrom oder auch Jacques Parizeau, Ex-Premier von Québec, und zwar, weil er versuchte, die private Energiewirtschaft Kanadas zu verstaatlichen.
Für den Hamburger Karikaturen-Konflikt heißt das: Das Motiv ist weder zum Anti-Nazi-Motiv geronnen – in dem Sinne, dass jede Spinnenkarikatur einen Hitler-Vergleich bedeuten würde –, noch hat die NS-Propaganda es dauerhaft umgeprägt: Den Stürmer lesen heute nur wenige. Auch Scheuerl musste ja noch einmal nachgoogeln, um den vermeintlichen Ursprung im Jahre 1930 zu entdecken.
Das Gewicht seines Vorwurfs hätte mindestens eine sporadische Umfeldrecherche erfordert. Die hätte gezeigt, dass die Spinne auf dem Terrain der satirischen Zeichnung in den 1920ern höchst prominent ist: So eröffnet Gus Bofa am 15. Mai 1930 in der Pariser Galerie Manuel letztmals seine Messe der komischen Grafik. Seit 1920 hatte sie als „Salon de l’Araignée“ weltweit für Furore gesorgt – zu deutsch: als „Salon der Spinne“.
Zu den Gattungsspezifika der Karikatur gehören die Neigung zu Verdrängtem und eine Reduktion auf ein Repertoire „immer wiederkehrende Symbole“, wie Hannes Haas in seiner Studie über „Die Publizistik des Vorurteils“ feststellt. Das Motiv der Spinne entspricht dem par excellence: Marginal ist es – und doch ist seine Geschichte lang. Die ist weitestgehend ungeschrieben, groß sind zudem die Lücken. Aber wie und durch wen die Spinne als polemisches Motiv Eingang in die abendländische Kultur findet, lässt sich bestimmen. Das ist nämlich geschehen, als Theobald den „Physiologus“ bearbeitet hat.
Theobald war ein Geistlicher aus Norditalien. Über seine Identität wissen wir nur, dass die Behauptung, er sei von 1022–1035 Abt des Klosters von Monte Cassino gewesen, nicht stichhaltig ist. Der „Physiologus“ wiederum ist eine frühchristliche Naturkunde: Ihr Verfasser stellt die wichtigsten Tiere vor wie Ameise, Löwe und Seejungfrau, und erläutert deren heilsgeschichtliche Bedeutung. Theobald bringt vor 1150 das Werk in lateinische Verse und fügt das Kapitel „De Aranea“ ein, von der Spinne. Die „ist ein kleiner Wurm/der emsig viele Fäden webt“, geht es los, aber eben nur zu einem eitel-vergänglichen Netz, das andere Herrgottstierchen täuscht, die sie dann – teuflisch – tötet.
Der „Physiologus theobaldi“ wird ein Best- und absoluter Longseller: Die letzte Auflage wird 1708 gedruckt, da ist der Ur-„Physiologus“ längst vergessen. Vor Charles Darwin hat kein Buch die europäische Sicht aufs Tier stärker geprägt. Trotzdem bleibt die Spinne selbst bei Höllenmalern ein rares Motiv – und ein ungewisses: Wäre das am linken Rand des rechten Flügels von Hieronymus Boschs Garten der Lüste-Triptychon ein Spinnenmonster? Einigermaßen zuverlässig greifen die Emblem-Bücher der frühen Neuzeit auf die Spinne zurück, wo die ersten Meister der mit dem Zeitungsdruck entstehenden Kunstform Karikatur sie für sich entdecken – und ihren politischen Nebensinn.
Dass der dem Motiv von Anfang an innewohnt, lässt sich indes am besten durch einen weiteren Schritt zurück zu Theobalds Quellen erklären: Statt aus der griechisch-römischen Mythologie schöpfte er lieber aus biblischen Texten – und war offenbar in Berührung mit der talmudischen Tradition. Die weist eine sehr markante Spinnen-Allegorese auf, überliefert hat sie der frühmittelalterliche Kommentar zu den Sprüchen Salomonis, der Midrasch Mischle. Der referiert eine Deutung der Spinne, die ihr Netz laut Bibel „mit eigenen Händen“ in „der Könige Schlössern“ wirkt. Sie soll von Rabbi Jirmea ben Eleazar stammen, einem Gelehrten des 3. Jahrhunderts, der in ihr Edom sieht, „die böse Nation“ – also Rom. „Denn unter allem Gekreuch gibt’s nichts Verhassteres als die Spinne“, heißt es in Martin Bubers Übersetzung. Ein „Musterstück subversiver Aufklärung“ nennt Altphilologe Hubert Cancik diese Interpretation, die das heroische Wappentier des Imperium Romanum, den erhabenen Adler, durch etwas ersetzt, das als klein gilt und hässlich – als Gekreuch.
Nicht in der Übertreibung negativer Äußerlichkeiten des Gegners liegt laut Kunsthistorikerin Angelika Plum „das Vermögen der Karikatur“, sondern in „der Sichtbarmachung dessen, was hinter der äußeren Erscheinung steckt“: Wenn die Spinne in die christliche Kunst als entlarvendes Emblem des römischen Weltreichs Eingang findet, dann hat das von ihr entworfene Bild von Anfang einen karikaturhaften Zug.
Und tatsächlich nutzen Karikaturen die Spinne stets als Schmähbild einer – realen oder behaupteten – imperialistischen Übermacht: Das Musterbild des Kapitalisten in der entstehenden Sowjet-Propaganda des Jahres 1919 – eine Spinne. Der bösartige Aktienmanipulator, Eisenbahn- und Telegrafenspekulant Jay Gould wickelt als Spinne 1885 auch die US-Justiz ein. Die Jesuiten sind dem französischen Magazin L’Anticlérical im Jahr 1881 – Kreuzspinnen.
Und Napoleon Bonaparte, der sich bei der Kaiserkrönung den Adler Jupiters zum Wappentier gewählt hat, erscheint unter Thomas Rowlandsons Feder 1808 - und hier haben wir es mit einer politischen Karikatur von eminenter Bedeutung, die vergleichsweise früh schon in wichtige Sammlungen Eingang gefunden hat und Generationen von Zeichnern beeinflusste - als The Corsican Spider In His Web. Denn unter allem Gekreuch gibt es nichts Verhassteres – ganz wie Rabbi Jirmea lehrt.
Wirkliche Ursprünge sind selten auszumachen in der Kunst. Und das Vorleben eines polemischen Motivs heilt dessen missglückte Anwendung nicht. Unerträglich aber ist es, wenn dessen gut 900-jährige Geschichte ausradiert wird, gelöscht und vernichtet, zugunsten eines obskuren Nazi-Illustrators, dessen Propaganda-Zeichnungen zum Ursprung des Motivs verklärt werden – nur weil es gerade einer sachfernen Polemik mehr Durchschlagkraft zu verleihen scheint.
Das überhöht, ja glorifiziert letztlich die Nazi-Propaganda selbst, der – wie auch immer versehentlich – eine völlig unangemessene Wirkmacht zugestanden wird: Dazu sollte sich niemand herablassen. Schon gar nicht der Vorsitzende des Bildungsausschusses einer Bürgerschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin