: Spiel’s noch einmal, Gert!
GROSSES BURGTHEATERGEDENKEN AN THOMAS BERNHARD Wien empfängt Claus Peymann sehr warmherzig – er geht schließlich wieder weg
VON UWE MATTHEISS
Am Ende der Geschichte krümmt sich die lineare Zeitvorstellung wieder in zyklische Verläufe. An wenigen Plätzen der Welt lässt sich dieses Ende ohne Ende so komfortabel überdauern wie Wien. Mögen andere Kontinente epochale Umwälzungen bergen und mehr denn je Geschichte machen, dort, wo Wien seinen Ort im Universum der Mentalitäten hat, schrumpft es. Zeit spielt keine Rolle, es genügt der eigene Nabel beziehungsweise ein Heiligenkalender. Für Ungläubige und Häretiker gibt es immerhin die Gedenkdienste des Kulturbetriebs. Solch ein Jubeljahr ist in Wien gerade angebrochen: Seliger Thomas Bernhard, bitte für uns! Wir haben Geschichte geleugnet, die Kunst ignoriert und Mistfuhren vor das Burgtheater gekippt.
Die Jahrestage von Geburt und Tod binnen einer Woche, 9. und 12. Februar, sorgen zudem für weitere rituelle Verdichtung: Ausstellungen, Lesungen im ganzen Land, Fernsehdiskussionen mit lauter ehemaligen Widersachern, die eigentlich schon immer dafür gewesen sind. Das Burgtheater hat sein A und das O dazu gegeben. Ein „Fest für Thomas Bernhard“ als Auftakt zum Geburtstag, eine Premiere mit Claus Peymann und Gert Voss zum Todestag. Die Wortform des Gedenkdienstes blieb seltsam unter ihren Möglichkeiten trotz des Auftritts einer versammelten ersten Garde von Bernhard-Schauspielern. Die Matinee-Form zur falschen Tageszeit, jenes Schauspieler-lesen-mit-Betonung-und-Kammermusik, gerät schon vor der ersten Silbe so affirmativ, dass die unerbittlichsten Jeremiaden in schopenhauernde Kalendersprüche zerbröckeln.
Wo denn Bernhard heute stehe, war die Frage. Darüber kann der hochkirchliche Anteil des Burggedenkens vielleicht mehr Auskunft geben. Mit „Einfach kompliziert“, das ab dem 17. Februar auch am Berliner Ensemble zu sehen ist, komplettieren Claus Peymann und Gert Voss im Akademietheater ihre Oeuvres. In Wien sind sie darüber hinaus Sehnsuchtsnamen, die an bessere Zeiten erinnern. Für wenige Tage flammte etwas von der alten Betriebsamkeit auf, jene um das Theater herumprozessierende Dauererregung mit markigen Ansagen in Interviews, den geplanten Eskalationen. Peymann war in Wien kein öffentlicher Konflikt zu dämlich, als dass nicht seine – ästhetischen – Mittel daran zu schärfen waren. Der Wiener Öffentlichkeit, besonders ihren Machern, fehlt das heute. Selbst alte Widersacher akklamieren: Old boys are back in town! Mit einem Solo für den alten Schauspieler, der darüber räsonniert, dass Altern an sich schon schlimm ist, aber mehr noch, wie wir heute altern. Karl-Ernst Herrmann zeigt wieder seine Weitwinkel-Visionen dazu, eines jener Paralleluniversen aus den 80er Jahren, die eine gedachte Wirklichkeit bis in den letzten Haarriss im Furnier verdoppeln und gerade darin im Höchstmaß verfremden.
Voss, der in Wien kein Publikum hat, sondern eine Gemeinde, schreit, flüstert, deklamiert, schlägt Nägel in die Wand, verschüttet Milch und streckt Schopenhauer die Zunge heraus. Er hämmert die ganze breite Schauspielklaviatur rauf und runter in Mikrometerdistanz an der Outrage vorbei, aber immer von unsichtbaren Fäden in der Form gehalten. Das Ganze ist das Virtuosenspiel einer fremden Epoche. Seine Würde besteht darin, wie der Protagonist, von dem es erzählt, unaufhörlich weiterzuspielen, selbst um den Preis des Verlustes von Zeitgenossenschaft.
Wo Bernhard heute steht, erfährt man hier auch nicht. Allerdings zieht die Aufführung, was den reflektierten Umgang mit Text und den schauspielerischen Mitteln betrifft, hierzulande wieder eine Gürtellinie ein gegen einen kontinuierlichen Niveauabfall, der in der Nach-Peymann-Ära im Grunde alle großen Häuser in Wien ergriffen hat. Frenetischer Jubel für eine im Lauf der jüngeren Wiener Theatergeschichte dann doch verlorene Sache. Aber die hat das Wiener Bürgertum ohnehin am liebsten, sie kommen nicht wieder.