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Special Olympics in InzellKai kanns

Die Special Olympics in Inzell verzeichnen einen Teilnehmerrekord. Der geistig behinderte Langläufer Kai Schembera gewinnt trotz "Trainingsfaulheit" eine Bronzemedaille.

INZELL taz Kai Schembera hat die Startnummer 91. "Die 90 darf ich nicht aus den Augen verlieren", flüstert er sich leise zu. Sicher folgt er dem Langläufer vor ihm auf seinen Skiern in Richtung Startlinie zum 1-km-Langlaufrennen. Äußerlich ist Kai ruhig. Er zappelt nicht, spricht kein Wort. Dann blickt er sich plötzlich unsicher um. "Mir ist übel", sagt er leise. Er würgt, atmet tief ein. Der Sportler mit der 90 startet. Dreißig Sekunden später steht Kai an der roten Linie, die unter einer dünnen Eisschicht hindurchschimmert. Die Startuhr läuft. Piep. Zwei Helfer ziehen Kai auf die Linie. Er kneift die Augen nervös zusammen. Piep, piep, piep. Das rote Licht wechselt auf Grün. Kais olympischer Lauf beginnt.

Kai Schembera ist Radfahrer, Fußballer und Langläufer. Dennoch ist der klein gewachsene 35-Jährige mit dem gemütlichen Bäuchlein keine Sportskanone. "Er ist trainingsfaul", sagt Andreas Guigas, sein Trainer und Betreuer, "das sieht man ihm ja auch an, aber bei Wettkämpfen ist er mit ganzem Herzen dabei." Zusammen mit sechs anderen Sportlern aus seiner Behinderten-Wohngruppe im schwäbischen Fellbach nimmt er an den Wettkämpfen des Special Olympics im bayrischen Inzell teil. Der Langläufer träumt nicht von einer Medaille, "der vierte oder fünfte Platz wäre toll".

So bescheiden ist nicht jeder Sportler. Niemand wird gerne Letzter. Damit keinem der 574 Athleten die Chance auf eine Medaille versagt bleibt, werden alle Sportler in Leistungsgruppen eingeteilt. Gold, Silber und Bronze werden so in jeder Sportart gleich mehrfach verteilt. Ein Prinzip, das sich seit über vierzig Jahren bewährt hat. Neben Kai starten noch 573 Athleten in den Sportarten Snowboard, Eiskunstlauf, Ski Alpin, Langlauf und Eisschnelllauf.

Für Kai sind es die vierten Winterspiele. Bereits drei Tage vor Beginn der Wettkämpfe sind sie angereist. Der schwäbische Sportler teilt sich sein Zimmer mit Heinz Naumann, einem 25-jährigen Landschaftsgärtner. Zwei, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Heinz ist groß und athletisch, durfte im Februar sogar an den World Special Olympics im amerikanischen Idaho teilnehmen, Kai wirkt dagegen eher gemütlich. Wenn Heinz redet, ist Kai still. Freitags tauschen sie die Rollen, dann zieht es Kai ins Rockcafé, Heinz bleibt lieber daheim. Ein Magazin auf dem Nachttisch zeigt ihre gemeinsame Leidenschaft: den Sport. Sie trainieren oft gemeinsam, spielen in derselben Fußballmannschaft. "Und wenn jemand Kai ärgert, halte ich zu ihm", sagt Heinz und legt seinen Arm um die Schultern seines Freundes.

Kai hat erst spät sprechen gelernt. Schreiben und lesen fallen ihm bis heute schwer. "Er hat eine geistige Behinderung unbekannter Ursache" heißt es im Beamtendeutsch. "Kai ist einfach etwas langsamer als andere", sagt sein Betreuer. Später, beim gemeinsamen Mittagessen ist Kais Schüchternheit verschwunden. "Unser Kai ist eine richtige Klatschbase", sagt Andreas, "gerade erst gestern haben wir ihm den Spitznamen ,der Flüsterer' gegeben, weil er nie still sein kann." Kai schaut mit aufgerissenen Augen seinen Betreuer an. "Du erzählst Blödsinn", sagt er kopfschüttelnd und kann sich ein Lächeln doch nicht verkneifen.

Im Sport geht Kai an seine Leistungsgrenze, ist ausdauernd, wenn auch kein schneller Sprinter. Dabei mag er die Geschwindigkeit. Am liebsten wäre er Rennfahrer. Doch den Führerschein kann Kai nicht machen, "dafür liest und schreibt er zu schlecht", erklärt Andreas. Bei seinem Job als Beifahrer im Lastwagen ist Kai trotzdem oft auf den Straßen um Stuttgart unterwegs. "Gerne winkt er den Leuten in den Autos zu, ist doch so Kai, oder?", sagt Andreas. Kais Wangen verfärben sich rot, er schaut zu Boden. Der Betreuer fährt ihm übers Haar. "Arschloch!", brüllt Kai und zieht die Augenbrauen unter dem schmalen Brillenrand zusammen. Ein paar Sekunden später wird sein Blick wieder weich. Leise murmelt er: "Meine Frisur soll doch nicht kaputtgehen."

Am nächsten Morgen ist die Frisur zur Nebensache geworden, denn ohne Helm darf keiner auf die Piste. "Alle einlaufen!", ruft Christine der Gruppe zu. "Ich auch?", fragt Kai. "Ich habe doch ,alle' gesagt", gibt die Betreuerin zurück. Manchmal braucht Kai eben etwas länger. Er schnallt die Skier an und lässt seine Hände durch die Schlaufen der Skistöcke gleiten. Er ist ein erfahrener Langläufer, "nur skaten kann ich nicht, ich brauche die Loipen". In den Spurrillen im Schnee fühlt er sich sicher. Nach der ersten Runde sind die Trainer zufrieden. Kai ist es auch. "Das Rennen kann beginnen."

Um 10.13 Uhr fährt Kai über die rote Startlinie. Er drückt sich kräftig ab, strauchelt kurz, dann finden die Skier die Loipen. "Zieh an", ruft ihm Andreas zu, "nimm die rechte Loipe, die 90 steckst du locker in die Tasche." Kai rammt die Skistöcke kräftig in den Schnee, wird schneller und verschwindet hinter der ersten Kurve. Christine eilt zum Ziel. Jetzt heißt es warten. Nach fünf Minuten biegt Kai auf die Zielgerade ein, überholt sogar einen Läufer. Mit recht hohem Tempo fährt er ins Ziel, der Blick ist auf die Loipen gerichtet. Er reißt nicht die Arme in die Luft, wie so viele Athleten vor ihm, sondern ist bis zum Schluss konzentriert. "Ich könnte noch eine Runde fahren", sprudelt es aus ihm heraus. "Das war gut, das war richtig gut!" Er weiß es noch nicht, aber sein Lauf war wirklich gut. Kai Schembera gewinnt die Bronzemedaille.

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2 Kommentare

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  • AD
    Axel Dörken

    Danke. Auch für die achtsame Art der Berichterstattung und die achtsame Benennung auch des Vornamens.

     

    Ich erachte es als unfreundlich Menschen als "Müller" zu bezeichnen, wenn es auch mit "Herr/Frau Müller" oder eben mit "Kai Schembra" anstatt Schembra" geht.

     

    Wenn Professionalität hinter Freundlichkeit steht, werden Menschen zu Nummern oder zu Nachnamen.

  • TR
    Thomas Rieske

    Schön, dass die taz über dieses Event berichtet. Mich irritiert allerdings die Beschreibung von Kai Schembera: Warum wird er beim Vornamen genannt?

     

    Normalerweise werden Sportler_innen auch in der taz beim Nachnamen genannt. Wird durch die Verwendung des Vornamens nicht suggeriert, diese Person sei etwas unreifer, jugendlicher, weniger ernst zu nehmen als andere Sportler_innen?

     

    Gut, die Betreuer_innen werden auch beim Vornamen genannt. Damit, und durch den Fokus auf persönliches wird das gesamte Event als Freizeitspaß dargestellt, der so ein bisschen "niedlich" ist (dazu passen auch die Beschreibungen des Sportlers als bescheiden, mit gemütlichem Bäuchlein versehen und nicht-Sportskanone).

     

    Was transportiert dies aber für ein Bild über Menschen mit (geistiger) Behinderung? Und warum werden die Kommentare des Betreuers, kai Schembera sei eine "Klatschbase" und winke den Leuten immer in den Autos zu, so kommentarlos wiedergegeben? Liest man sonst etwa in Berichten über die Herrenfußball-Bundesliga ähnliche Bemerkungen, z.B. dass Jürgen über Lukas sagt, dieser sei ein kleiner Milchbubi?

     

    Warum werden Schemberas widersprechende Antworten hingegen mit weiteren Beschreibungen verknüpft, in welchen diese Antworten als kurze Ausbrüche von Wut erscheinen, weniger aber als berechtigter Aufruhr gegen derart bevormundende Behandlung???

     

    Ich habe den Eindruck, dass dieser Artikel weniger die Realität von kai Schembera und anderen wiedergibt, als einen Einblick in die Wahrnehmung der Autorin und der taz-Redaktion zu geben. Und ärgere mich mal wieder darüber, dass so etwas in der taz möglich ist.