■ Spätlese: Anne Sexton: "Biographie"
Wenn die materiellen Probleme gelöst sind, lautet eine häufig verdrängte marxistische Einsicht, wird mit dem Menschsein erst begonnen – aber das Reich der Freiheit ist nicht notwendig auch das des Glücks. Die Biographien der Dichterinnen Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann und Anne Sexton legen, bei allen Unterschieden, die Binsenweisheit nahe, daß Glück wie Unglück komplizierte Angelegenheiten sind: aus mehr Komponenten zusammengesetzt, als der Mehrkomponentenkleber Verstand gern bedenkt. Wie alle Binsenweisheiten wird auch diese unterschätzt: man vergißt, daß ein Satz auch durch seine Wahrheit zur Phrase werden kann und daß Plausibilität durch Verbreitung ordinär wird, aber nicht verschwindet.
Drei Dichterinnen der sechziger und siebziger Jahre, drei Mittelschichtstöchter, drei begabte Studentinnen, drei ehrgeizige Frauen, drei Denkerinnen auch, die den Feminismus erst erfinden mußten: und drei Selbstmörderinnen im strengen oder – im Falle Bachmann – im weiteren Sinne (also der Autodestruktivität so ausgeliefert, daß mittelfristige Strategien wie Alkohol- und Tablettenmißbrauch den Aktionismus einer Selbsttötung im Zweifel erübrigten). Drei Personen, die an sich selbst und den Umständen litten, in die sie geboren wurden – spezifischer aber als männliche Dichterkollegen gebunden an ihr Geschlecht und dessen Unmöglichkeiten, so daß Frau wie Mann sich schwertun mit der Kleistschen Begnadigung der Nachwelt, daß ihnen auf Erden nicht zu helfen war.
Anne Sexton ist hierzulande dem Namen nach – als Pulitzerpreisträgerin – bekannt, nicht aber durch ihr Werk, das übersetzt nicht vorliegt. Sie war Zeitgenossin von Sylvia Plath, Adrienne Rich, Gloria Steinem und als Lyrikerin enorm erfolgreich, an Popularität in der BRD vielleicht am ehesten mit Erich Fried vergleichbar: „Ich lese keine Lyrik“, bekannte eine ihrer Verehrerinnen, „aber ich lese Anne Sexton.“ Dieser Umstand hat einerseits mit Sextons Themen als Schriftstellerin zu tun, andererseits damit, daß die Identifizierung dieser Themen mit ihrer Person zum Nutzen ihrer Popularität von Sexton selbst affirmativ betrieben wurde: ihre Lesungen glichen Performances, und der expressiv-kontrollierte Stil ihrer Selbstdarstellung hat so unterschiedliche Künstlerinnen wie Erica Jong, Laurie Anderson und Madonna angeregt und beeinflußt. Dreierlei – die Tatsache, daß eine Autorin Realita wie Menstruation und Inzest, Masturbation und Gewalt zu Gegenständen ihrer Lyrik machen konnte, daß sie die Technik der freien Assoziation gewissermaßen von der Couch auf den Schreibtisch hob, und daß sie schließlich für die Darstellung all dessen mit ihrer Person einstand, brach offenbar Dämme in den USA der sechziger Jahre.
Anne Sexton verletzte die Konventionen amerikanischer Lyrik formal und inhaltlich, und sie verkörperte diese Tabubrüche ohne Scham, dafür aber mit einem der Performance zuträglichen Maß an Narzißmus und Hysterie. Sylvia Plath schrieb Gedichte über teilweise dieselben Themen mit vergleichbarer Expressivität und Kunstfertigkeit und starb mit dem Kopf im Gasofen, bevor ihre Karriere wirklich begonnen hatte. Die öffentliche Person Anne Sexton, die berühmte und preisgekrönte Autorin, starb zehn Jahre später in ihrer Garage im Auto mit laufendem Motor: ein männlicherer Tod. Aber auch ihre Gründe waren, soweit sie sich sozialisieren lassen, weiblich.
Die Biographie Middlebrooks ist eine typische Arbeit dieser Jahre aus den USA: von einer fleißigen Frau verfaßt über wiederum eine fleißige und bedeutende Frau, gesättigt von Archivmaterial und jounalistischen Recherchen, sorgfältig ediert, auf jener ekklektizistischen Höhe der Epistomologie geschrieben, auf der sich die Literaturwissenschaft, durch Feminismus, Werk- und Rezeptionstheorien, Strukturalismus, Psychoanalyse und Dekonstruktion bereichert und geläutert, mittlerweile ohne lästige Skrupel bewegt, kurz: einfühlsam, materialreich, klug und „lesbar“. Und 400 Seiten zu lang.
Die Autorin selbst ist für jenen zuletzt erwähnten Umstand vielleicht sogar freizusprechen: vermutlich gehen akademische und verlegerische Kalküle einer solchen Veröffentlichung voraus, die in etwa lauten: eine Biographie von Sexton muß, wenn sie sich verkaufen soll, zugleich die bestmögliche, also solideste, also materialreichste sein. Ihre Unanfechtbarkeit als Klassiker schon bei Erscheinen beruht dann weniger auf der Intelligenz ihrer Thesen, auf der Sprachkraft ihrer Autorin, auf der Originalität ihres Ansatzes als darauf, daß hier möglichst viel Material bereits aufbereitet ist: so sind gleichsam schon die Grenzpfähle in dieses Feld gerammt, das „Anne Sexton – eine Dichterin“ heißt – und nur eine Parzelle in jener Nachlaßlandschaft ist, in der auch Plath, Rich, Bachmann et.al. ihren Platz haben. So kommen Biographien zustande, die unendlich genau sind, sehr vorsichtig in ihren Thesen, technisch gewissermaßen unanfechtbar und eben, außer für den inner circle, ganz entschieden zu ausführlich.
Trotzdem: Middlebrook gelingt es, dieses hochkomplizierte Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Faktoren – Anne Sextons familiärer Hintergrund, ihre Psychotherapie, ihr Leben als Ehefrau, als Mutter, als Geliebte wechselnder Männer (und einer Frau), als Autorin wie als Kranke und die soziale und politische Umgebung einer Hausfrau wie einer öffentlichen Frau in der Zeit des Vietnamkriegs und des Zweitwagens – lebendig abzubilden. Dies gilt nicht nur für Middlebrooks Schreibstil, sondern ebenso für ihren Denkstil: daß die Biographin sich nicht für eine Lebensbeschreibung entscheidet, daß sie Anne Sexton nicht ausschließlich als depressive Hysterikerin oder als Inzestgeschädigte darstellt, daß sie sich gewissermaßen weder auf die endogene noch auf die exogene Seite der Interpretation schlägt, daß sie sich der Verführung enthält, hauptsächlich eine Krankengeschichte zu schreiben, ist eine große Qualität des Buches. Middlebrook scheint sich als Autorin performativ der Tendenz eines Nachrufs auf Sexton anzuschließen, den sie am Schluß ihres Buches zitiert: „Anne Sextons Tragödie wird nicht ohne Einfluß auf die Tragödien anderer Menschen bleiben“, schrieb Denise Levertov, „Wir, die wir am Leben sind, müssen tun, was ihr versagt war, nämlich den Unterschied zwischen Kreativität und Selbstzerstörung aufzeigen. Die Tendenz, beides zu verwechseln, hat bereits zu viele Opfer gefordert. Die Feststellung, daß Anne Sexton einige Jahre ihres Lebens Künstlerin war, obwohl sie einen so schweren Kampf gegen ihren Todeswunsch führen mußte, ist die angemessene Art, ihrer ehrenvoll zu gedenken.“
Die Haltung Sextons zu ihrer eigenen Krankheit – mal als Hysterie, mal als Depression, von ihr selbst (wohl fälschlich) als Psychose beschrieben – war ambivalent: ihre Medikamentation wie ihre Drogen (Schlaftabletten und Alkohol) erlaubten ihr ein gewisses Funktionieren und auch Kreativität, wurden aber von ihr immer wieder auch autodestruktiv eingesetzt. Sextons Pendeln zwischen psychischer und intellektueller Arbeit qua Einsicht, also Therapie, und dem mechanischen Gebrauch von Drogen entsprach wohl genau ihrem schwankenden Bezug auf sich selbst als Gesunde wie als Kranke: nicht einmal sie und gerade sie konnte das Rätsel nicht lösen, wann und warum ihr Lebens- oder ihr Todeswille stärker waren. In ihrem wie im Leben von Sylvia Plath gibt es, der Überlieferung nach, jene Haltepunkte, nach denen es „anders hätte kommen können“ – wenn am Abend vor Plaths Selbstmord der Freund noch vorbeigekommen wäre, wenn es nicht tagelang geschneit hätte und sie nicht ohne Wasser und Strom gewesen wäre, wenn Sexton nach ihrer Scheidung in jener letzten Krise nicht hätte allein in ihrem Haus übernachten müssen, wenn ihre Therapeutin aufmerksamer gewesen wäre... Aber es gibt neben den praktisch-banalen Haltepunkten ja auch die strukturellen Schwierigkeiten: wenn Plath ihre narzißtische Störung hätte überwinden können, wenn Sexton sich nicht hätte scheiden lassen, wenn die eine konflikt- und die andere friedensfähiger gewesen wäre... Und es gibt die soziologischen Faktoren: wenn die Gesellschaft Plath und Sexton ein weniger abgehetztes Leben ermöglicht hätte, auch eines mit mehr Vorbildern für kreative Frauen: wenn, wenn, wenn. Aber es gibt auch jene Gespräche dieser beiden miteinander in der Bar des Ritz' (nach dem gemeinsam besuchten Literatur- workshop), in denen sie sich, fasziniert und mit einer Fraglosigkeit, die für Nichtdepressive unvorstellbar ist, über den Selbstmord unterhielten:
But suicides have a special language.
Like carpenters they want to know wich tools
They never ask why build.
(Aber Selbstmörder haben ihre eigene Sprache.
Wie Handwerker: sie wollen wissen wie
Und fragen nie warum
Aus Anne Sexton: Wanting to Die)
Diane Wood Middlebrook: „Zwischen Therapie und Tod. Das Leben der Dichterin Anne Sexton“. Aus dem Amerikanischen von Barbara von Bechtolsheim und Silvia Morawetz. Arche Verlag, 605 Seiten, geb., mit Photos, Anmerkungsapparat und Register, 68 DM
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