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Späte AufbarbeitungDie kleingeredeten Opfer

Erstmals thematisiert eine Ausstellung die Zwangssterilisationen in der Nazi-Zeit aus der Sicht der Traumatisierten - allein in Bremen waren das 2.665 Menschen

Wilhelm Werner: Das eigene Leid skizziert Bild: Haus im Park

Der Clown mit seinem dicken Kugelbauch und den ernst dreinblickenden Augen könnte die Illustration aus einem alten Kinderbuch sein. Doch die Bälle, mit denen er jongliert, sind Hoden. Seine Hoden. Die Figuren des Wilhelm Werner (1898–1940), der sich selbst „Theaterrekisör“ nannte, sind stets wie Puppen, neben dem lustig aussehenden, indes hilflosen Clown treten dabei immer wieder Ärzte auf, und Ordensschwestern. Vor allem aber: kommen immer wieder die Hoden ins Bild. Werner, der 1940 der Euthanasie der Nazis zum Opfer fiel, wurde zwangssterilisiert – gemäß des 1933 erlassenen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. 44 von Werners Bildern wurden kürzlich von der Heidelberger Sammlung Prinzhorn erworben – ein Teil davon ist derzeit in der Galerie im Park des Krankenhaus-Museums auf dem Gelände des Klinikums Bremen-Ost zu sehen.

Die Ausstellung „Der Siegeszug der Sterelation ... und die Medizinverbrechen im Nationalsozialismus“ thematisiert nach eigenen Angaben erstmals die Zwangssterilisationen in der NS-Zeit – aus der Sicht der traumatisierten Opfer. Von „Sterelation“ ist deshalb die Rede, weil Werner selbst den Begriff einmal benutzt. Von seiner Lebensgeschichte wissen wir heute nicht mehr viel, nur dass er einst wegen „Idiotie“ in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, aber, den Bildern zufolge, sicher nicht stark geistig behindert war. Er ist einer von etwa 400.000 Jugendlichen, Frauen und Männern, die der staatlich organisierten Zwangssterilisation der Nazis zum Opfer fielen. In Bremen gab es zwischen 1934 und 1944 insgesamt 2.665 solcher Verfahren, zu jeweils gleichen Teilen an Frauen und Männern durchgeführt. Meist wurden ihnen vorher „Schwachsinn“, „Schizophrenie“ oder „manisch-depressives Irresein“ attestiert, bisweilen reichte aber auch „Epilepsie“, „Alkoholismus“ oder ein Sprachfehler aus – der behauptete Erbgang der Krankheiten war freilich unbewiesen. „Lebensunwert ist derjenige Mensch“, schreibt 1933 der Leiter der Bremer Nervenklinik, „der infolge seiner körperlich-geistigen Konstitution nicht imstande ist, für sich und seine Familie den Lebensunterhalt zu verdienen, und von dessen Nachkommen dasselbe infolge erblicher Erkrankung zu erwarten ist.“ Weil der Mann aber nicht in der Partei war, wurde er trotz dieser – und unter Ärzten damals weit verbreiteten – Einstellung alsbald ersetzt. Sein Nachfolger, Theodor Steinmeyer, wird später als einer der brutalsten und radikalsten Vertreter der NS-Psychiatrie gelten. 1939 ersetzte den wiederum der SA-Obersturmbannführer Walter Kaldewey, der nach dem Krieg als „Mitläufer“ eingestuft wird und bis zu seinem Tod 1954 als Nervenarzt mit eigener Praxis arbeiten darf. Als solcher attestierte er dann Verfolgten des Naziregimes, dass sie durch die KZ-Haft psychische Bereicherung erfahren hätten. Kaldewey war auch einer der Gutachter der „Euthanasie“-Morde der Nazis.

Die Opfer der Bremer Zwangssterilisationen kamen in der Regel aus kinderreichen Unterschichtsfamilien, mehr als ein Fünftel war jünger als 20, mehr als ein Drittel zwischen 20 und 29 Jahre alt. 16 von ihnen starben, unter anderem, weil der nie zur Rechenschaft gezogene Chirurg fast blind war und sehr starke Beruhigungsmittel verabreichte.

Zwangssterilisationen hatte es in Bremen schon in den Zwanzigerjahren gegeben, damals noch ohne rechtliche Grundlage. Schon kurz nach dem Krieg debattierten die Bremer Ärzte über ein neues Sterilisationsgesetz. Die Idee hinter dem im Volksmund „Hitlerschnitt“ genannten Zwangseingriff wurde von vielen als im Ansatz sinnvoll erachtet. Fast alle Kliniken in Deutschland machten bei der NS-Gesundheitspolitik mit.

Für die Opfer bedeutete die Zwangssterilisation nicht nur der Verzicht auf Kinder, unter den Nazis durften sie weder heiraten noch einen sozialen Beruf ausüben, jeder Bildungsweg war ihnen versperrt. „Ich bin eine kranke Frau geworden, die einfach ihre Alpträume nicht wieder los wird“, sagt eine Frau über die Folgen des Zwangseingriffs, „nur durch diese Schande bin ich ganz allein.“ Erich Paulicke (1926–2007), der 1945 für seine Angehörigen schon für tot erklärt worden war und erst 1987 anfing, über seine Geschichte zu sprechen, sagt einst: „Ich habe den Teufel kennengelernt.“ Wuchtige Reliefs, die wie Massengräber wirken, oder ein großformatiges Altarbild zeugen davon. Ein fast einstündiger Film erzählt die Geschichte seiner Rückkehr an den Ort, an dem er fast ermordet worden wäre.

Durch ihre Autobiografie etwas bekannter wurde die heute in Hamburg lebende 95-jährige Dorothea Buck, die ebenfalls in der Ausstellung vertreten ist, mit beeindruckenden Plastiken, die von Schmerz erzählen, aber auch von dem, was ihr verwehrt war: Mutterschaft. Einst wurde sie wegen „Schizophrenie“ zwangssterilisiert, in den Siebzigern und Achtzigern arbeitete sie als Lehrerin für Kunst und Werken, 1992 gründete sie den Bund Psychiatrie-Erfahrener. „Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen“, sagt sie.

Während andere Opfergruppen aber „schnell als solche anerkannt“ wurden, sagt Kulturwissenschaftlerin Maria Hermes, seien Zwangssterilisierte bis in die Achtziger „stigmatisiert“, ihr Leiden „kleingeredet“ worden. Die Beschlüsse der „Erbgesundheitsgerichtshöfe“ der Nazis wurden erst 1998 aufgehoben.

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