: Sozialstaat an Börse verkauft
betr.: „Kein Grund zur Verunsicherung“, taz vom 17. 12. 99
Ein Sparkonzept überholt das nächste.
Seit 1996 gibt es in den städtischen Krankenhäusern einen Einstellungsstopp, eine Budgetkürzung jagt die andere, die Überlastung der Stationen in den Krankenhäusern gefährdet die Patienten, weitere 5.000 Beschäftigte der städtischen Krankenhäuser werden mit Prämien aus ihrem Beruf gelockt, und der Senat legt in aller Seelenruhe ein weiteres Sparprogramm vor. Wer stellt eigentlich noch die Frage nach der Versorgung unserer Patienten?
In den Schlagzeilen der Zeitungen gibt es nur noch einen Patienten –die AOK. Dieser Patient muss unbedingt gerettet werden und sei es durch den Verzicht auf jeden Qualitätsanspruch an die medizinische und pflegerische Versorgung der uns anvertrauten Patienten. Die ganze Frage der Entwicklung der Berliner Krankenhäuser muss gerade andersherum betrachtet werden:
1. Was brauchen die Patienten in Berlin?
2. Ausstattung der Krankenhäuser nach diesem Bedarf.
3. Wie finanziert man das?
Nun wird man feststellen, dass das Geld fehlt, diesen Patientenbedarf zu decken. Offenbar sind die Einnahmen der AOK Berlin zu gering.
Warum eigentlich wird es gesellschaftlich akzeptiert, dass es eine Krankenkasse gibt, die einen Großteil aller Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger, Rentner und anderer Risikogruppen zu versichern hat. Der so genannte Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen gleicht nur etwa 40 Prozent dieser finanziellen Risiken aus und führt somit automatisch diese Krankenkasse in den Ruin.
Der Gesetzgeber muss jetzt in die Pflicht genommen werden. Wir brauchen eine einzige gesetzliche Krankenversicherung, in der alle versichert sind und in der die grundsätzlichen Prinzipien einer Solidargemeinschaft gelten: Reiche für Arme, Gesunde für Kranke und Junge für Alte! Wer dann reich genug ist und auch am Krankenbett nicht auf Laptop, Internet-Anschluss und Handy verzichten mag, der kann sich über diesen Solidarbetrag hinaus gerne privat zusatzversichern.
Dass dies nicht finanzierbar wäre, ist eine schlichte Lüge. Seit 1975 sind die Kosten für die Krankenhäuser völlig stabil. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt haben diese Kosten immer um drei Prozent gelegen. Da gab es keine Kostenexplosion! Das eigentliche Problem im Gesundheitswesen sind nicht die Finanzen, sondern die nassforschen Politiker, die im Namen der Globalisierung und Europäisierung unseren Sozialstaat an der Börse verkaufen wollen.
Volker Gernhardt, Vorsitzender des Personalrates
am Krankenhaus Neukölln
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen