Sozialpolitik: Hamburg will Bildungs-Chips
Hamburgs CDU will Vorreiter beim Gutscheinsystem werden. Kritiker fürchten, das Geld werde anderswo gekürzt.
Die CDU-Fachminister der Länder Hamburg und Niedersachsen halten den Vorschlag, Bildungsgutscheine an Hartz-IV-Familien auszuteilen, für bedenkenswert. Hamburgs Sozialsenator Dietrich Wersich, zeigt sich interessiert, die von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vorgeschlagene Bildungs-Chipkarte für Kinder in einem Modellversuch auszuprobieren. Niedersachsens Kultusminister Bernd Althusmann sagte am Mittwoch im Landtag: "Wir könnten mit einem solchen Programm das Angebot an unseren Schulen sinnvoll ergänzen." Dabei ist unklar, ob dieses neue Stück Bürokratie nötig ist und ob das Geld nicht an anderer Stelle im Hilfesystem gekürzt wird.
Von der Leyen versucht, mit ihrem Vorschlag einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden. Dieses hatte moniert, die Sozialhilfesätze für Kinder dürften nicht durch willkürlichen Abschläge vom Erwachsenen-Satz festgelegt werden. Sie hätten sich stattdessen am tatsächlichen Bedarf zu orientieren. Die Bundesregierung will deshalb Kindern aus Sozialhilfe-Familien zum 1. Januar 2011 einen Rechtsanspruch auf ein "Bildungspaket" einräumen.
Damit würde den Familien nicht einfach zusätzliches Geld überwiesen, sondern sie erhielten zweckgebundene Sachleistungen, über deren Verwendung sie nur begrenzt selbst entscheiden können. Hintergrund ist die von der Jungen Union im vergangen Jahr angezettelte Debatte darüber, dass viele arme Familien das Geld vom Staat angeblich lieber für Flachbildschirme und Zigaretten ausgäben als für das Fortkommen ihrer Kinder.
Ob das tatsächlich so ist, scheint jedoch keiner zu wissen. Weder die Wohlfahrtsverbände noch die für die Sozialhilfe zuständigen Argen können dazu Auskunft geben. Auch die Hamburger Sozialbehörde hat dazu keine empirischen Daten. Lediglich die Praktiker aus dem Sozialamt des Hamburger Bezirks Mitte sagen, dass es durch wie auch immer geartete Bildungsgutscheine "eine Verbesserung geben könnte, weil das Geld eins zu eins bei den Kindern ankommt".
Dass die Hilfe bei den Kindern ankommt, wäre ein Vorteil eines Gutscheinsystems, sagt Julia Seifert, Sprecherin der Hamburger Sozialbehörde. Darüber hinaus würde wie beim Kita-Gutscheinsystem ein Markt entstehen, auf dem die verschiedenen Anbieter um Kunden werben müssten.
Rüdiger Kuehn vom Jugendhilfeträger SME sieht hier ein Problem: "Für uns Träger könnte das ein Nullsummenspiel werden", sagt er. Wenn sie durch eine Bildungs-Chipkarte Einnahmen erzielten, würden die Kommunen den Trägern "mit Sicherheit" im Gegenzug die institutionelle Förderung kürzen. Die Folge: Mehr Kinder müssten mit dem gleichen Angebot auskommen. "Das ist kein schlüssiges Konzept", findet Kuehn.
Im Gegenteil: Ein solcher Vorschlag verfestige die Benachteiligung armer Kinder, denn er gelte ja nur für Hartz-IV-Bezieher und nicht für Familien mit geringem Einkommen. Das gelte umso mehr, als der Hamburger Senat gerade intern eine Liste an Sparvorschlägen vorgelegt hat, nach der vor allem Beratungsangebote für Familien gestrichen werden sollen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband fragt sich, ob einem Bildungsgutschein vor Ort überhaupt entsprechende Angebote gegenüberstünden. "Auf dem flachen Land wird dieses Problem besonders gravierend sein", warnt Sprecher Christian Böhme. "Ob Jugendbildungsstätten, Jugendzentren, kulturelle Einrichtungen für Jugendliche oder Familienförderung: Seit 2002 geht die Zahl der Angebote massiv zurück", kritisiert er. Bundesweit werde pädagogisches Personal abgebaut und Einrichtungen geschlossen. "Dieser Rückbau muss gestoppt werden", fordert der Sozialverband.
Praktiker Kuehn bezweifelt überdies die Effizienz des Gutschein-Systems: Damit werde bloß eine neue Bürokratie geschaffen. Einfacher und wirksamer sei es, jedem Kind ein kostenloses Mittagessen zu finanzieren, da ist er sich mit den Kollegen vom Bezirk Mitte einig. Die oppositionelle Hamburger SPD und auch die mitregierende GAL finden, vor der Form der Hilfe müsse über deren Inhalt geredet werden, also über die Bedürfnisse der Familien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter