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Souveräne Fürstentümer zählten ihr Volk

■ Volkszählungsboykotteure sind je nach Region und Regent völlig unterschiedlich belangt worden

Auf dem Volkszählungsbogen hatte zwar die Frage gestanden, ob sie mit dem Auto zur Arbeit fahre. Daß aber dieses Auto infolge der Volkszählung beschlagnahmt würde, hatte Luise P. aus Langenfeld sicher nicht erwartet. Doch 40 Tage lang behielten die Behörden den Opel–Ascona als Faustpfand ein, weil Frau P. auch nach Androhung eines Zwangsgeldes den Volkszählungsbogen immer noch nicht ausfüllen wollte. Etliche Kilometer weiter im sozialdemokratisch regierten Herdecke ließen die Gerichtsvollzieher im Namen der Volkszählung die Wohnung einer Krankenhauspatientin aufbrechen und nahmen einen Schrank und zwei Tische als Pfand für den nicht ausgefüllten Bogen mit. Was in Langenfeld und Herdecke die Staatsmacht auf den Plan rief, kratzte in Bochum, Köln oder Essen niemanden. Wer dort den Bogen in den Papierkorb warf, hatte nichts zu befürchten. Die Volkszähler ver zichteten nicht nur großzügig auf dessen Daten, sondern auch auf Buß– und Zwangsgelder. Die kleinsten Gemeindeoberhäupter avancierten zu Fürstentümern mit eigener Gerechtigkeit. Die Zwangsmaßnahmen und Ordnungsgelder für Boykotteure sind zwar bundesweit einheitlich im Volkszählungs– und im Statistikgesetz geregelt. Ob und wie davon Gebrauch gemacht wurde, hing jedoch allein von den kleinen Fürsten ab, die unabhängig von Parteizugehörigkeit je nach persönlichen Ambitionen Sanktionen verhängten oder davon absahen. Während zum Beispiel in der saarländischen Provinz im Namen der Zählung die ersten Beamtenlöhne gepfändet wurden, bekamen in der Landeshauptstadt die Boykotteure gerade mal Erinnerungsschreiben. Und als in Bayern den Boykotteuren nach 500 Mark Zwangsgeldandrohung schon die Puste ausging, dauerte es in Bremen noch Monate, bis sich die Hansestadt eher unwillig entschloß, 40.000 Zwangsgeldandrohungen zu verschicken. Zur gleichen Zeit hatten in Berlin die Finanzämter bereits die ersten 500 Zwangs– Märker einfach von den Girokonten der Boykotteure abgebucht oder vom Lohnsteuerjahresausgleich einbehalten. Und während in weiten Teilen des Ruhrgebietes weder Zwangs– noch Bußgelder erhoben wurden, hält Berlins Innensenator es mit der Parole „doppelt hält besser“ und schickt 16.000 Verweigerern neben den Zwangsgelderhebungen noch 1.500 Mark Bußgeldandrohungen hinterher. Was in Berlin anderthalbtausend Mark kosten soll, gibt es im Saarland um ein Siebtel billiger. Und so hat die Volkszählung zumindest die eine wichtige Erkenntnis gebracht - nämlich die, daß es in der Bundesrepublik gar kein Volk zu zählen gibt, sondern allenfalls unzählige Volkszählungstümer.

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