: Sorgerecht entziehen?
betr.: „Das maßgeschneiderte Kind“, taz vom 10. 10. 00
Beim Lesen der juristischen – oder besser: rechtsethischen – Überlegungen drängt sich mir ein Gesichtspunkt auf, der jedenfalls nach deutschem Recht den Leuten einen Strich durch die Rechnung machen könnte (wie es in Amerika ist, weiß ich nicht):
Jeder körperliche Eingriff, auch die Blutentnahme, ist eine Körperverletzung. Das Kind ist nicht einwilligungsfähig. Normalerweise werden Entscheidungen für ein Kind von seinen sorgeberechtigten Eltern getroffen. Sie befinden sich hier aber in einer Interessenkollision; denn sie müssten, um dem ersten Kind zu helfen, in die Rechte des zweiten Kindes eingreifen, obwohl sie doch verpflichtet sind, ihre Entscheidungen allein am Wohl des Kindes zu orientieren. Nach deutschem Recht müsste in solch einem Falle den Eltern teilweise das Sorgerecht entzogen und dem Kind für diese Entscheidung ein „Pfleger“ bestellt werden. Das ist sozusagen ein Vormund mit einem eingeschränkten Aufgabenbereich.
Die arme Person, die als Sorgerechtspfleger oder -pflegerin für die Entscheidung über die Zustimmung zu einem körperlichen Eingriff bestellt wird, wäre um ihre Verantwortung nicht zu beneiden. Solange es bloß darum geht, einmal ein Pieksen zu erdulden wie bei einer Impfung, lassen sich Bedenken vielleicht noch überwinden; aber wenn das im künftigen Leben des Kindes immer wieder vorkommen soll oder vielleicht noch weitergehende Eingriffe erwogen werden – wer kann denn die Verantwortung dafür übernehmen, dass dies dem Kind zugemutet werden soll und das Kind vielleicht immer in der Angst vor weiteren Drangsalierungen leben muss? Vielleicht bliebe dann nur die Alternative, den Eltern das Sorgerecht insgesamt zu entziehen und das Kind in eine Pflegefamilie zu geben, wo es in Sicherheit wäre! [...]
CHRISTOPH STRECKER, Stuttgart
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