Sophie Fichtner Vorschlaghammer: Wenn nicht die Tanzschritte zählen, sondern das Gefühl, schlängelt sich die Wirbelsäule von ganz allein
Neulich saß ich in einem dunklen Saal und hatte Tränen in den Augen. Auf der Bühne tanzten Profis mit Menschen aus dem Publikum, die sie dazugeholt hatten. Jede:r tanzte anders – wild mit den Armen, wippend von Fuß zu Fuß, Paare kreisten umeinander. Viele der Tanzenden waren sich zuvor nie begegnet und trotzdem wirkten sie wie eine eingespielte Einheit. Die Leichtigkeit schwappte ins Publikum über. Der Saal, gefüllt mit über 1.000 Zuschauenden, lachte, klatschte, wippte mit. Ich war berührt von der Schönheit dieses Moments, der Verbundenheit, davon, wie einfach Spaß sein kann, und nahm mir vor mehr zu tanzen.
Das Stück wurde von Ohad Naharin mitchoreografiert, der die Bewegungssprache Gaga erfunden hat. Es geht nicht um bestimmte Schritte, sondern darum, den eigenen Körper zu spüren, Emotionen durch Bewegung zu fühlen und das Bewusstsein zu schärfen. Man soll sich instinktiv bewegen und nicht, wie man denkt, dass Tanzen aussehen soll.
Also buche ich einen Gaga-Kurs. Leider fällt er auf einen Montagabend bei Novemberwetter. Ich fühle mich nach Sofa, aber dann stehe ich in Socken in einer neonlichtgefluteten Turnhalle.
Es gibt eine Regel für die nächste Stunde: in Bewegung bleiben. Über dreißig Menschen zwischen 25 und 65 stehen mit mir in der Halle, in der Mitte die Trainerin. Sie gibt Anweisungen, wie wir uns bewegen, was wir fühlen sollen. Wir sollen nach links und rechts schwingen und dabei in die Knie gehen. Unser Körper soll sich anfühlen, als würden wir Porridge rühren. Langsam und zäh ziehe ich meine Arme durch die Luft.
Sonst tanze ich zu schnellen Bässen auf dunklen Tanzflächen. Manchmal reiße ich meine Arme in die Luft, viel Platz zum Bewegen bleibt zwischen den schwitzenden Menschen im Club eh nicht. Jetzt soll ich mich durch die ganze Halle bewegen, tanzend meine Position wechseln. Ich bin froh, dass ich meine Brille nicht trage. So erkenne ich die anderen Tänzer:innen nur schemenhaft und fühle mich anonymer. Dass mein Bücken, Biegen, Wirbeln jeder sehen kann, versuche ich auszublenden.
Als Nächstes sollen wir uns vorstellen, in Luftpolsterfolie verpackt zu sein, uns leicht fühlen, wie die kleinen Luftkissen, die man so knallend zerplatzen lassen kann. Ich mache die gleichen Bewegungen wie vorher, aber diesmal sanft, meine Arme fühlen sich leicht an. Jetzt sollen wir die ganze Wirbelsäule mitnehmen. Dafür ist es wichtig, das Becken zu benutzen, sagt die Trainerin, die Bewegung kommt nicht aus den Beinen.
Ich erinnere mich an meinen Tanzlehrer in Lissabon, der mir Forró, einen brasilianischen Paartanz, beibringen sollte. Er verzweifelte an mir und meiner „deutschen Hüfte“ – das war mein letzter Versuch, tanzen zu lernen. Das Gute an Gaga aber ist, ich darf meine Hüfte irgendwie kreisen lassen und muss weder auf den Takt noch die Füße meines Tanzpartners achten. Stattdessen soll ich beobachten, wie ich mich in meinen Klamotten bewege. Wie viel Platz ist zwischen meinem Rücken und dem Shirt?
Nach einer Stunde fühlt sich mein Körper an, als hätte ich jedes meiner Gelenke geölt. Die Lehrerin dreht die Musik noch einmal lauter. Unbewusst gehe ich viel tiefer in die Knie, meine Wirbelsäule macht ungewohnte Schlangenbewegungen. Noch nie habe ich so frei und nüchtern mit lauter Fremden in einer hellen Halle getanzt. Wir waren zäher Teig und leichte Luftpolster. Wenn man tanzt, ist alles möglich.
Sophie Fichtner,29, ist Redakteurin der wochentaz. Jeden Monat erhält sie einen Rat fürs bessere Leben und testet: Ist das Fortschritt oder Bullshit?
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen