Sonja Vogel German Angst: Kann man eine Kleinstadt bewohnen, ohne Prepper zu sein?
Als ich von Berlin in die kleine Stadt zog, war es so, wie von Moskau wieder nach Berlin zu kommen: leer, still, nervenaufreibend langsam. Wenn mir damals die Decke auf den Kopf fiel, bin ich in den Supermarkt gegangen. Hier gehe ich zu Karstadt. Der sollte eigentlich schließen, verkauft nun aber Aktionsware aus Häusern reicherer Städte. Nach einem Gang durch das Haus habe ich eine Handvoll Menschen gesehen. Das muss reichen.
Es ist nicht so, als gäbe es keine Infrastruktur. Es gibt sie, aber eben bloß 9–5 und 5/7. Ich komme mir vor, wie ein Prepper, wenn ich am Freitag noch schnell Tiefkühlware kaufe. Aber was, wenn ich am Wochenende Hunger bekomme? Es ist trist, aber vor allem ist es ein Rätsel: Wie verschickt man Post, wenn die Filiale nur zu den Kernarbeitszeiten geöffnet hat? Woher bekommt man abends Geld, wenn die Tür zum Bankomaten ab 18 Uhr verschlossen ist?
Fast alles folgt hier einer perfiden, kleinteiligen Ordnung. Jeden Morgen stehe ich um dieselbe Uhrzeit auf. Nur ein Nachbar tut das vor mir. Meine taz liegt bereits im Papiermüll. Irgendjemand macht sich jeden Morgen die Mühe, die Zeitung von der Türschwelle ins Haus zu tragen. Nur, um sie wegzuwerfen. Auf dem Weg zur Arbeit laufe ich an einem Bäcker vorbei. Der Zulieferer steigt aus seinem Kastenwagen und lächelt mich an. Manchmal steht der Wagen an der Ampel. Dann wissen wir: Jemand hat getrödelt.
Ich wohne im Erdgeschoss. In einer großen Stadt wäre das eine Mutprobe. Zunächst wollte ich nicht mal eine Pflanze auf den Balkon stellen, aus Furcht, sie zu verlieren. Durch Diebstahl oder Vandalismus. Sie fiel dann an einem sonnigen Herbsttag einem Hagelschauer zum Opfer. Wenn jemand in den Hinterhof läuft, hört es sich an, als stampfe er/sie durch mein Zimmer. Mittlerweile weiß ich, wer wann hinaustritt. Einmal in der Woche holt der Hausmeister die Mülltonnen auf die Straße. Und es gibt den gelben Sack. Kenne ich aus meiner Kindheit. „Gelber Sack“ – das war der Termin im Küchenkalender meiner Eltern. Man wusste genau, welcher Nachbar den Sack zu spät rausgeräumt hatte. Auch hier ist die Sache ernst: Zweiwöchentlich bilden prall gefüllte Säcke einen verschwörerischen Kreis um Straßenlaternen. Damit ich mitmachen kann, hat mir der Vormieter ein paar Säcke dagelassen. Nachschub gibt’s nur im Bürgerbüro. Das hat nur geöffnet, wenn der brave Bürger auf der Arbeit ist.
Die Fünftage-vorschau
Mi., 20. 12.
Michael Brake
Nullen und Einsen
Do., 21. 12.
Max König
Fast Italien
Fr., 22. 12.
Hengameh Yaghoobifarah
Habibitus
Mi., 27. 12.
Ingo Arzt
Kapitalozän
Do., 28. 12.
Martin Reichert
Herbstzeitlos
kolumne@taz.de
Apropos Öffnungszeiten. Es ist Sonntag. Ich hätte gern ein Bier. Ich gehe in die leere Eckkneipe und frage, ob ich ein Bier zum Mitnehmen kaufen kann. Es gibt aber nur welches aus einem kleinen, goldenen Hahn. Eigentlich; denn das Fass ist leer. Ich gehe zur Aral-Tankstelle, laut GPS 1,4 Kilometer. Auf dem Weg begegne ich: niemandem. Ich kaufe ein Bier und einen viel zu grünen Apfel. „Prost“, sagt die Verkäuferin. – „Vielen Dank“, sage ich. Dann laufe die 1,4 Kilometer zurück. Schön über die Straße; denn sonntags sind die Ampeln aus.
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