Sofasurfing in Frankreich: In blumiger Umgebung
LA KOLUMNE
Von
Johannes Kopp
In den unterschiedlichsten Wohnungen bin ich in Frankreich herzlich Willkommen geheißen worden. Ich solle mich wie zu Hause fühlen, hieß es oft. Die Möglichkeit, sich über das Internet in fremde Wohnungen einzumieten, ist auf den ersten Blick sehr attraktiv.
In Marseille habe ich bei einer älteren herzensguten Frau im 17. Stock einer Hochhaussiedlung genächtigt. Sie hat gemalt. Sehr blumig. Die Wände hingen voll davon. Die Wohnung in diesem grauen Betonkasten war ein Schmuckstück ihrer botanischen Fantasie, die sie sich allein vermutlich nicht mehr leisten kann.
Eine andere ältere Dame an der Peripherie von Lyon wohnte in einer Straße, die man nur durch eine mit einem Code gesicherte Eisengittertür betreten konnte. Und in dieser scheinbar so verschlossenen Welt hatte sie in jedem Raum ihrer Dreizimmerwohnung einen Gast. Wo sie selbst geschlafen hat, weiß ich nicht. Womöglich auf diesem dunkelgrauen Sofa im Wohnzimmer.
In Lille begrüßte mich Edouard mit seiner Freundin, gab mir den Schlüssel und verschwand aus dem geschmackvoll eingerichteten Heim. Wir haben uns nicht mehr gesehen, den Schlüssel warf ich am nächsten Tag in den Briefkasten. Anaïs hat in Bordeaux ihr Studenten-WG-Zimmer für mich geräumt. Kein Problem, versicherte sie mir, weil sie merkte, dass ich etwas verdutzt war.
Ja, die kapitalistische Verwertung des privaten Raums befremdet mich zunehmend. Die Begegnungen sind meist nett, aber die Nettigkeit wird hernach im Internet auch einer gegenseitigen Bewertung unterzogen. Das ist der Deal. Ein bis fünf Sterne gibt es zu verteilen. Ich bin immer auch ein Stück weit Richter in den Privatgemächern der anderen. Ich richte mich ja selbst nach den Urteilen anderer. Diese durch den ökonomischen Druck beförderte Entgrenzung des Privaten ist schon auch unheimlich, aber ungemein preiswert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen