Slavoj Zizek über den Arabischen Frühling: "Ich gebe zu, ich war überrascht"
Die Revolutionäre wollen nicht den gleichen liberalen Kapitalismus wie der Westen. Sie wollen mehr. Ein Gespräch mit dem Philosophen Slavoj Zizek.
taz: Herr Zizek, bei ihrem letzten Interview mit der taz haben sie gesagt, dass Sie keinen "Plan für eine neue Revolution" hätten. Angesichts der Revolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten - fehlt Ihnen das Gespür für den revolutionären Moment?
Slavoj Zizek: Ich gebe zu, ich war überrascht. Aber das Neue kommt eben nie von dort her, wo man es erwarten würde. Wir haben einfach keine Theorien, um im Vorfeld zu urteilen. Noch kurz vor der Oktoberrevolution sagte Lenin: "Wenn ihr Glück habt, werden eure Söhne die Revolution erleben."
Und sind die Ereignisse nach Ihrem Geschmack?
Ja, ich freue mich. Das ewige Mantra der europäischen Liberalen, Muslime könne man nur mit Antisemitismus, Nationalismus und Islamismus in Wallung bringen, ist widerlegt. Was wir sehen, ist eine klar universalistische Bewegung für mehr Freiheiten und Solidarität.
Als radikaler Linker müssten Sie die Ereignisse doch verschrecken. Bestätigt sich nicht Fukuyamas These vom Endsieg der liberalen Demokratie in Verbindung mit Kapitalismus?
Fukuyama glaubt doch selber nicht mehr an das "Ende der Geschichte". Die Idee, dass diese Staaten alle unserem fröhlich liberalen globalen Dorf beitreten, ist utopisch. Es ist völlig falsch, zu denken, die Revolutionäre wollen den gleichen liberalen Kapitalismus wie der Westen. Sie wollen mehr.
SLAVOJ ZIZEK 1949 geboren. Slowenischer Philosoph, Kulturkritiker, Psychoanalytiker, großer Popularisierer der Theorien Jacques Lacans und der zurzeit wohl bekannteste Marxist. Populär geworden ist er durch seine assoziative Methode und einen manisch-emphatischen Vortragsstil. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch: "Auf verlorenem Posten" (Suhrkamp 2009). Am Wochenende spricht er in Berlin auf dem "Marx is muss"-Kongress. www.marxismuss2011.wordpress.com.
… aber was mehr?
Nun, dieses "Mehr" schwingt untergründig in den Forderungen nach Gerechtigkeit und Solidarität mit. Ob es sich am Ende einstellen wird, das ist noch offen. Ich bin skeptisch.
In Ägypten verwaltet mittlerweile ein Militärrat die Revolution. Kann man da überhaupt noch von einer Revolution mit "offenem" Ausgang sprechen?
Vieles spricht dafür, dass die Revolution ein pathetischer Moment der Solidarität bleibt. Wenn die Ägypter aufwachen, werden sie neue Gesichter haben, aber das gleiche System - etwas liberaler, aber weiterhin korrupt. Der entscheidende Kampf findet im Moment statt. Aus den Aufständen eine neue institutionelle Ordnung hervorgehen zu lassen, erfordert geduldige Arbeit.
Kann Religion eine Lösung sein? Oder schließen Religion und Emanzipation sich gegenseitig aus?
Der Islam hat sicherlich ein gewisses emanzipatorisches Potenzial. In einem vor Kurzem veröffentlichten CIA-Dokument aus den 60er Jahren las ich: Vergesst Kuba, vergesst Kommunismus. Die einzige Gefahr, die die Amerikaner wirklich fürchten müssen, ist linke Theologie. Nein, im Ernst. Prinzipiell bin ich nicht der Ansicht, dass Religion ein notwendiger Bezugspunkt im revolutionären Prozess ist. Im Übrigen: Ich glaube auch nicht an die Notwendigkeit einer Emanzipation vom Westen. Insofern, als die radikale Emanzipation ein westliches Projekt mit universellem Anspruch ist. Hier bin ich also Eurozentrist.
Was ist mit Israels Sorgen, durch die Revolutionen könnten die Islamisten an die Macht kommen?
Von Islamisten sehen wir bislang nichts. In erster Linie beobachten wir ja säkular-demokratische Revolutionen. Und die sind die einzige Chance, dass der Antisemitismus im Nahen Osten verschwindet oder abnimmt. Auf Antisemitismus haben sich die alten Autokratien im Inneren gestützt.
Angesichts des Muts junger Syrer, Libyer und Ägypter - wo ist die europäische Linke?
Die europäische Linke hat keinen konsistenten sozialökonomischen Plan für eine alternative Gesellschaft. Entweder sie erfindet sich neu …
… oder?
Oder der Neoliberalismus plus Antiimmigrationsbewegungen bringen neue softautoritäre Regime hervor. Die Demokratiewelle in Nordafrika und im Nahen Osten macht die Dinge nur komplizierter. Weil sie die Tatsache verschleiert, dass wir weltweit mit neuen Formen der Apartheid, der Exklusion und Inklusion von Menschen, konfrontiert werden. Alles, um den Kapitalismus am Laufen zu halten.
Schlechte Aussichten also?
Weshalb? Die einzige Utopie ist die Annahme, Dinge würden auf ewig bleiben, wie sie sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel