Skepsis bei Chipkarte: "Bürokratisierung des Sozialstaates"
Mehrere SPD-Politiker und der Armutsforscher Butterwegge haben Kritik an Ministerin Von der Leyens Hartz-IV-Chipkarte geäußert. Butterwegge sprach von "Bürokratisierung des Sozialstaates".
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KÖLN/BERLIN dpa/reuters/apn | Unmittelbar vor dem Bund-Ländertreffen für eine bessere Förderung bedürftiger Kinder haben die Kritiker erneut ihre Skepsis gegenüber den Chipkarten-Plänen von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen geäußert. "Wir müssen zunächst miteinander klären, was die Kinder wirklich brauchen", sagte SPD-Vizechefin Manuela Schwesig am Freitag in Berlin. "Ich finde, wir sollten nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen." Schwesigs rheinland-pfälzische Amtskollegin Malu Dreyer, die Koordinatorin der SPD-geführten Länder ist, klagt in einem Brief an von der Leyen darüber, dass das Bundesministerium bisher nicht bereit gewesen sei, "den Ländern die Aufträge an das Statistische Bundesamt bekanntzugeben, die als Grundlage für eine Neubewertung der Hartz-IV-Regelsätze erteilt worden" seien.
Hinter dieser Klage steckt der Verdacht, dass von der Leyen den Arbeitsauftrag so formuliert hat, dass sich aus den gelieferten Daten eine möglichst geringe oder gar keine Erhöhung der derzeit geltenden Hartz-IV-Sätze ergibt. NRW-Sozialminister Guntram Schneider (SPD) sagte, die Karte sei "ein ebenso durchsichtiges wie untaugliches Ablenkungsmanöver, das nur überdecken soll, dass Frau von der Leyen keine konkreten und für alle nachvollziehbaren Zahlen für den neuen Hartz-IV-Satz für Kinder präsentieren kann oder will". Zudem sei die Chipkarte diskriminierend und praktisch unbezahlbar. Eine solche Karte mache jedem sofort klar, dass man Kinder aus Hartz-IV-Familien vor sich habe.
Auch der Kölner Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge sieht in der geplanten Bildungs-Chipkarte für Kinder aus Hartz IV-Familien eine "Bürokratisierung des Sozialstaates". "Eine Regierung, die sonst so sehr auf Selbstverantwortung setzt, will genau diese jetzt beschneiden", kritisierte Butterwegge am Freitag. "Der Kontrolldruck auf Hartz IV-Empfänger würde deutlich erhöht. Mit der Karte würde den betroffenen Familien auch die letzte Entscheidungsfreiheit genommen." Außerdem halte er eine solche Karte für diskriminierend. "Die Einführung einer solchen Chipkarte nur für Kinder aus Hartz IV- Familien schafft ein Zwei-Klassen-System", sagte Butterwegge. "Wenn schon, müsste man deshalb alle Kinder mit dieser Karte ausrüsten. Dann aber braucht man die Karte überhaupt nicht und kann gleich alle entsprechenden Angebote - von der Musikschule bis zum Museum - kostenlos machen."
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Stephan Articus, bezeichnete von der Leyens Vorschläge zwar als "gute Initiative". Er ergänzte jedoch: "Aber man muss auch die Kosten und den organisatorischen Aufwand und die Umsetzbarkeit prüfen." Er gehe davon aus, dass es zunächst zu einem Übergangssystem kommen werde. "Es ist nicht viel Zeit, es muss am Ende des Jahres stehen, das neue System."
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will eine Bildungs-Chipkarte einführen, mit der Eltern und Schüler unter anderem die Kosten für Nachhilfe oder den Eintritt in Schwimmbäder und Museen bezahlen können. Die Karte soll nach den Plänen der CDU-Politikerin aus Steuermitteln finanziert werden. Ziel ist eine bessere Förderung für Kinder von Langzeitarbeitslosen. Das Verfassungsgericht hatte im Februar die bisher pauschal festgelegten Regelsätze für Kinder aus Hartz-IV-Familien für verfassungswidrig erklärt und eine Neureglung zum 1. Januar 2011 verlangt. Nach dem Urteil dürfen die Hartz-IV-Sätze von Kindern nicht mehr aus den Leistungen für Erwachsene abgeleitet werden. Bedürftige Heranwachsende haben zudem ab Januar einen Rechtsanspruch auf individuelle Bildungsförderung.
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