Skandal um Pflegefamilie von Chantal: Beamtenrecht sticht
Nach Tod einer Elfjährigen wird die Jugendamtsleiterin suspendiert. Vorgesetzter sagt, das habe er eigentlich längst tun wollen. Opposition bezweifelt das.
HAMBURG taz | Für Pia Wolters ist es eine unwürdige Situation: Im Blitzlichtgewitter nahm die Jugendamtsleiterin Dienstagabend im Familienausschuss der Hamburger Bürgerschaft Platz. Während sie aussagen sollte über die elfjährige Chantal, die an einer Methadonvergiftung gestorben war, schickten hinter ihr Journalisten per Smartphone Meldungen in die Welt - von Wolters Absetzung.
"Ich sitze hier und höre von meinen Mann, ich bin schon entlassen", fährt sie in der Pause Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) an, ihren Chef. Der will sie schon vor der Sitzung darüber informiert haben, sagt er der Presse. Sie werde aber noch an der Aufklärung mitwirken. Und noch etwas sagt Schreiber: Er habe er die zwei Stühle weiter sitzende Wolters schon 2009 versetzen wollen, nach dem Tod der neun Monate alten Lara Mia. Aber es habe sich kein anderer Posten gefunden.
Angreifbar war Wolters spätestens, seit sie am Montag, im Jugendhilfeausschuss des Bezirks Hamburg-Mitte aufgetreten war: Ja, sagte sie da, Chantal, die bei methadonsubstituierten Pflegeeltern lebte, hatte kein eigenes Bett - aber jenes, das sie mit ihrer Pflegeschwester teilte, sei "breit genug" gewesen. Und ob eine Wohnung "vermüllt" sei, wie die gerufene Polizei es nannte, das sei doch "Frage des persönlichen Empfindens".
Die elfjährige Chantal starb am 16. Januar an einer Methadonvergiftung. Sie lebte bei Pflegeeltern, die Substituierte sind.
Erste Konsequenzen des Hamburger Senats: Personen mit Drogenkarriere sollen keine Pflegekinder mehr bekommen. Bewerber müssen einen Drogentest machen.
Auch ein Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis gilt als Ausschlussgrund. Außerdem soll neue Richtlinien erarbeitet werden.
Die Akten der 1.300 Pflegeeltern werden geprüft. Bei Hinweisen auf Drogenvergangenheit gibt es Hausbesuche.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verletzung der Fürsorgepflicht gegen das Jugendamt und einen freien Träger.
Auch die Innenrevision der Finanzbehörde untersucht Fall.
Grüne und CDU haben Einsicht in alle Akten beantragt.
Zeit für ein Bauernopfer? Wieso setzte Schreiber Wolters nicht schon 2009 ab, als die Sozialbehörde dem Jugendamt attestiert hatte? Damals, bei Lara Mia, hatte das Jugendamt Hamburg-Mitte die "Kontrolle des Kindeswohls" aus dem Hilfeplan gestrichen, die Betreuung halbiert. Und Schreiber stellte sich nach Lara Mias Tod demonstrativ hinter das Amt.
Nun hängt sein eigener Posten am seidenen Faden. Am Dienstagabend wirkte der Bezirkschef blass und verhalten. Als sich der Ausschuss gegen 22 Uhr endlich dem Thema Chantal zuwandte, erstattete Schreiber Bericht: Fehler seien passiert. Dass die Kleine 2008 in diese Familie kam, sei "fachlich und rechtlich" nicht vertretbar. Man habe die Pflegeeltern, die bereits eine Enkelin bei sich hatten, nicht ausreichend überprüft, zu sehr den Berichten eines freien Trägers vertraut.
Fünf mal gab es Hinweise auf Drogenkonsum der Eltern, zuletzt im November 2011. Und immer habe sich das Jugendamt mit Erklärungen zufrieden gegeben wie der, das sei "Mobbing von Nachbarn", so Schreiber. Er habe 100 polizeiliche Fotos aus der Wohnung gesehen und könne nicht verstehen, wie seine Mitarbeiter, die regelmäßig dort waren, die Zustände in Ordnung finden konnten. Schreiber bestätigte, dass das Mädchen einen Bittbrief an ihren leiblichen Vater schrieb, rauswollte aus der Familie. Ein Gespräch darüber war bereits angesetzt - eine Woche vor dem Termin starb Chantal.
Auch Pia Wolters kam am Dienstag zu Wort: Man habe Chantal 2008 bewusst im ihr vertrauten Sozialmilieu untergebracht. Die Pflege sei als "Nachvollzug" genehmigt worden, was weniger strenge Kriterien bedeutet als bei neuen Pflegeeltern.
Dass der Pflegevater wegen Betäubungsmitteldelikten vorbestraft war, wusste das Jugendamt im benachbarten Harburg, das bis 2007 zuständig war. Man hielt die Pflege der eigenen Enkelin trotzdem für vertretbar. Auch als über Chantals Unterbringung entschieden wurde, sei ein Sozialarbeiter ins Haus geschickt worden. Der aber habe keinen Vermerk gemacht. "Die Aktendokumentation", sagte Wolters, "war nicht vorbildlich". Aus Überlastung: Auf einen Mitarbeiter kamen damals 95 Fälle.
Der Ausschuss tagte bis weit nach Mitternacht. Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) berichtete von Konsequenzen, etwa Drogentests für künftige Pflegeeltern und deren jugendliche Kinder. Ein Schnellschuss? "Was soll man machen, wenn man vor diesem Scherbenhaufen steht?"
Warum Wolters von ihrem Amt entbunden wurde, fragte ein Abgeordneter wissen, wird aber vom Ausschussvorsitzenden zurückgepfiffen. Nach taz-Informationen hätte die Absetzung der Amtsleiterin erst einen Tag später bekannt werden sollen. Ohne Spießrutenlauf.
Bezirkschef Schreiber ist noch lange nicht aus der Schusslinie. Als er Wolters 2009 habe versetzen wollen, zitiert ihn das Hamburger Abendblatt, habe er vom damaligen CDU-Sozialsenator Dietrich Wersich nicht die notwendige Unterstützung bekommen. Auch Scheele biete ihm erst jetzt Hilfe an. Für die Beamtin Wolters, so Schreiber zur taz, müsse "eine amtsangemessene Stelle" gefunden werden, "die in der Besoldungsstufe passt".
Die Opposition schäumt: Statt zu seiner Führungsverantwortung zu stehen, versuche Schreiber sich "als Opfer darzustellen", sagt der CDU-Politiker Christoph de Vries. "Das ist charakterlos."
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