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Singer-Songwriter NoëlGegen die Bionade-Bohème

Zu wohl temperiertem Schlagzeug und einsamen Klavier singt Noël das Ostberlin der Nachwendezeit zu Grabe. Ein wunderschönes Konzeptalbum zur Gentrifizierung.

Mit melancholischem Blick: Noël mit seinem neuen Album "Lost Neighbourhood". Bild: promo

Zugeben, zu hören ist das nicht eben auf Anhieb, dass man es mit einem Konzeptalbum zu tun hat. Ist aber so. Sagt Noël über "Lost Neighbourhood". Hinter gediegener Anti-Folk-Ästhetik, hinter akustischen Gitarren und wohl temperiertem Schlagzeug, hinter einem einsamen Klavier und gelegentlichen Einsprengseln vom Akkordeon oder Keyboards versteckt sich doch tatsächlich ein Abgesang auf den Osten Berlins, wie er nach der Wende entstanden war. Auf jenen wilden, unregulierten, spitzenmäßig kreativen Ort, der zum aktuellen Ruf der Hauptstadt als weltweiter Hotspot Entscheidendes beigetragen hat. Und der nun zunehmend den Spekulanten, Stadtentwicklern und der Bionade-Boheme zum Opfer fällt.

Ganz speziell hat es Noël Rademacher, der als gelegentlicher Schlagzeuger von Mina und Contriva zu einer überschaubaren Bekanntheit kam und diese mit Jersey auszubauen wusste, die Rosenthaler Vorstadt angetan. Mit melancholischem Blick streift er auf "Lost Neighbourhood", seinem zweiten Album, durch das Viertel, beobachtet vor den vielen Youth Hostels die Easyjetter, die mal eben zwischen Amsterdam und London einen Zwischenstopp einlegen. Er sieht die Anzugträger und Hipster, die nun die Gegend übernommen haben, während andere in die Randbezirke weiter ziehen mussten, an die "Wrong Side Of Town".

Singend fragt er: "Does it change a lot/ To have or to have it not?" Der The-Jam-Klassiker "The Bitterest Pill (I Ever Had To Swallow)" fügt sich nahtlos ins Konzept. Und wie um dem Wandel etwas entgegen zu setzen, hat er den Videoclip zu "Last Century Man" im Schokoladen drehen lassen, auch einem jener Orte in der Stadt, die heute von steigenden Mieten bedroht sind, aber noch so viel erzählen könnten von der anarchischen Kraft der mittlerweile nachgerade mythischen Nachwendezeit.

Ja, dies ist ein Konzeptalbum über das, was aktuell so modisch Gentrifizierung genannt wird. Aber "Lost Neighbourhood" ist vor allem auch: Eine ziemlich tolle Platte voller schöner Melodien, verklärten Gefühlen und einer romantischen Stimmung, mit der man einen milden Sommer in einer Stadt wie Berlin ganz gut rumbringen kann.

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6 Kommentare

 / 
  • FS
    Francesco Sinibaldi

    Upon your overcoat.

     

    There, on

    that tissue

    full of desires

    and beautiful

    thoughts, a

    little voyage

    while everything

    shines recalling

    the youth....

     

    Francesco Sinibaldi

  • S
    sascha

    bionade und boheme widersprechen sich.

  • DT
    der tut nichts zur Sache

    Naja, wer das Album dann letztendlich hören wird, ist doch klar - eben vor allem die besungene Bionade-Boheme. Kritischer Zeitgeist gepaart mit sich avangardistisch gebender Pop-Musik sind doch nahezu eine perfekte Ware...

  • T
    tired

    Das Bionade-Biedermeier wird sich auch diese CD ins Regal stellen. Es hatte noch nie Probleme damit, die Kritik an sich selbst wohlig-schaudernd zu genießen, oder selbstgerecht damit herumzuwedeln, denn es sind ja immer die anderen. Die CD wird auch auf und ab laufen in diesem neuen Cafe, wo tagsüber die ganzen schicken jungen Muttis mit Kinderwagen sitzen, und abends dann, ganz urig, diese, äh, Boheme. Den Text wird man dann gar nicht verstehen. Gentrifizierung ist aber sowieso nur Symptom anderer, größerer Probleme.

  • E
    eigenvalue

    Man könnte mit einiger Sicherheit behaupten, dass es doch gerade ein Definitionsmerkmal der anzugtragenden Bionade-Bohème ist, die Gentrifizierung zu beweinen und nostalgisch den guten alten Zeiten in Prenzlberg und Mitte nachzuhängen.

     

    Der französische Liedermacher Renaud hat übrigens bereits im Sommer 2006 mit seinem Song "Les Bobos" (kurz für "Bourgeois-Bohème") eine ganz ähnliche Thematik angesprochen.

  • JK
    j. koch

    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Autor selbst weiß, was er mit einem "wohl temperierten Schlagzeug" meint. J.S. Bachs bekanntes "Wohltemperiertes Klavier" jedenfalls spiegelte einst die spielerischen Möglichkeiten einer neuen Tonleiterstimmung wider. Zumal auf das Schlagzeug bezogen, ist hier wohl etwas anderes gemeint...