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■ Short Stories from AmericaDisneyland des Horrors

Nach Waco bleiben viele Fragen offen. Ich meine nicht die Frage, ob das FBI Justizministerin Janet Reno angelogen hat, hinsichtlich der angeblichen Kindesmißhandlungen auf dem Gelände der Davidianer. Selbst große Zeitungen der Mitte wie Newsday und The New York Times konnten keinerlei Belege dafür entdecken. (Aus unerklärlichen Gründen ist inzwischen auch das FBI dieser Ansicht.) Ich meine vielmehr die wirklich wichtigen Fragen, die Fragen nach der Zukunft von Waco. Verzeichnet der Tourismus Zuwachsraten oder nicht?

Ökonomisch gesprochen, kann Waco auf diese Einkünfte nicht verzichten. Die ersten Diskussionsrunden haben angeblich schon stattgefunden: „Waco: Gute Unterhaltung für die ganze Familie – ein bißchen Wilder Westen, ein bißchen Disneyland und eine Geschichtsstunde, die Ihre Kinder mit Stolz auf ihr Land erfüllen wird“. Einer der Werbefritzen soll auch noch „ein bißchen Sommerlochfüller“ gemurmelt haben. Das trifft zwar zu, wurde aber abgelehnt. Molly Ivins, die Kommentare aus Texas schreibt, entdeckte eine schwule Untergruppe der Davidianer, die sogenannten Frühstücks-Davidianer – weil sie glauben, Jesus sei an einem Croissant erstickt. Diese Erinnerungsstücke an Jesu Leidensweg wollen sie mit viel Butter drauf im Café Waco verkaufen – immerhin nützlicher als die Kreuzsplitter, die in Lourdes angeboten werden. Es steht zur Entscheidung, das Gelände eingeäschert zu belassen – das Pompeji-Modell: zu jeder vollen Stunde Führungen durch die Ruinen – oder es als Museum wieder aufzubauen (das Holocaust-Modell). Die ersten Angebote zum Bau der Tischmodelle liegen bereits vor – die werden mit Sicherheit gebraucht, um den genauen Ablauf des Armageddon Tag für Tag nachvollziehen zu können. Das FBI wurde gebeten, dem Museum einen der echten Panzerwagen zu schenken, die dem Gas einen Weg in die Gebäude brachen.

Die Moralbrigade fordert lautstark, über die Angelegenheit Waco dürfe kein Gras wachsen; der Tod von mindestens 17 Kindern und 70 Erwachsenen mache eine gründliche Untersuchung des Blutbads unabdingbar. Das erinnert an die Forderung ebenso hochgesinnter Beobachter, der Massenmord der Nazis dürfe nie in Vergessenheit geraten, der Tod so vieler Millionen fordere ewiges Gedenken, als Schuldigkeit gegenüber den Toten und als Warnung für die Lebenden. Zur Nachhilfe für die Wohlmeinenden hat das FBI die Davidianer in der gleichen Woche ausgeräuchert, in der auch der fünfzigsten Wiederkehr des Warschauer Ghetto-Aufstands gedacht und das Holocaust-Museum in Washington eröffnet wurde. Und die Wohlmeinenden hatten alle Hände voll zu tun, die Toten zu betrauern und den Lebenden auf allen nur möglichen Titelseiten ins Gewissen zu reden. Dazu hatten alle guten Zeitungen die schönsten Artikel bestellt, darunter auch einen von Zbigniew Brzezinski. Aber das war völliger Unsinn.

Erstens trauen die Amerikaner Brzezinski nicht über den Weg, wegen seines Namens oder weil er für Jimmy Carter arbeitete. Zweitens errichten wir als Gattung keine Gedenksteine, um in Zukunft Gewalt zu verhindern. Alle, die nach einem Blutbad „Nie wieder“ sagen, meinen gewöhnlich „nicht wieder mit mir“. Abgesehen davon errichten wir Gedenksteine an Grausamkeiten, weil die zu unseren beliebtesten Vergnügungen gehören.

Das läßt sich ganz einfach beweisen: Wenn wir als Gattung wirklich der Gewalt ein Ende machen wollten, bräuchten wir nur gegen sie einzuschreiten, sobald sie auftritt. Das tun wir aber nicht: Wir schauen aus der Sicherheit unserer Wohnungen zu und genießen jeden Nachrichtenschnipsel des Stadtschreiers (oder Fernsehens, wie es heute heißt). Nachdem wir vor dem Terror erschauerten, der uns nicht berührte, errichten wir ihm einen Gedenkstein, damit wir bei seinem Anblick immer wieder unser schlechtes Gewissen genießen können. Nach bescheidener Rechnung wüten Kriege zur Zeit in Bosnien, Nordirland, Libanon, Israel/Palästina, der Türkei, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Tadschikistan, Moldawien, Abchasien, Afghanistan, Kambodscha, Kaschmir, den Philippinen, Indonesien, Ost-Timor, Sri Lanka, Angola, Tschad, Djibouti, Äthiopien, Liberia, Ruanda, Somalia, Sudan, West-Sahara, Zaire, Südafrika, Kolumbien, Guatemala, Peru, Brooklyn, der Bronx und dem Geschäftsviertel von L. A. (sowie einiger anderer Städte).

Die Wohlmeinenden waren schockiert, als das FBI die Davidianer mit Tränengas angriff, obwohl die doch gar nichts taten. Aber das ist völliger Unsinn. Das FBI drang in die Gebäude ein, eben weil sie gar nichts taten. Welchen Sinn hätte denn das ganze Spektakel noch gehabt, wenn das FBI einfach eine Wache vor das Gelände gestellt, eine Art Hausarrest verhängt und abgewartet hätte, bis die Davidianer sich langweilten oder Durst bekamen? Weder dem FBI noch David Koresh wäre die Apokalypse zuteil geworden, die sie sich wünschten, beide in ihren eigenen Vorstellungen gefangen. Schlimmer noch: Die Presse hatte angefangen, sich zu langweilen, und begann am 45. Tag ihre Sachen zu packen (CNN brachte es vor Langeweile sogar fertig, selbst dies als Nachricht zu bringen) – und das heißt, dem Publikum drohte sein Film verlorenzugehen. Insgesamt hätten somit alle einen eindeutigen Verlust verzeichnen müssen (außer vielleicht die 17 Kinder und 70 Erwachsenen). Folgerichtig ging die Show weiter.

Und genau das haben die Leute von der „Waco Familien- Unterhaltung“ ebenfalls vor, und das ist ja auch ganz richtig so. Ein Massaker ohne Gedenkstein ist völlig sinnlos (siehe auch weiter oben: unser schlechtes Gewissen genießen). Wie ich höre, gibt sich die Tourismusbehörde von Waco alle erdenkliche Mühe, den Panzerwagen des FBI zu kriegen. Schließlich hat das Holocaust- Museum in Washington einen Viehwagen aufzuweisen, und man muß doch mithalten können. Angeblich hat sich Waco auch schon mit den Architekten des Holocaust-Museums in Verbindung gesetzt – auch das eine blitzgescheite Idee. Schließlich sind die Holocaust-Leute Experten für Gruppen, die wegen ihrer religiösen Überzeugungen hinter Stacheldraht kamen und sich gegen übermächtige Regierungen wehrten. Sie beherrschen den Markt für Gas und verbrannte Kinder. Vielleicht haben sie auch noch ein paar Erinnerungsstücke übrig, die sie für das Museum in Washington nicht benötigten, und da beide Gruppen Kinder Davids waren, bräuchten noch nicht einmal die Namen geändert zu werden. Wobei mir einfällt – was glauben Sie, wieviel die Filmleute auf ihr Angebot für den Fall draufgeschlagen haben, daß das FBI genau an dem Tag eindringen würde, an dem des Warschauer Ghetto-Aufstands gedacht wurde? Und Janet Reno – man muß es sich auf der Zunge zergehen lassen – ließ sich Kindesmißhandlungen einreden. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

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