piwik no script img

Short Stories from AmericaSieg auf allen Kanälen

■ O.J. Simpsons Story hat alles überrundet – im fairen Konkurrenzkampf

Wir schreiben den 4. Juli. Unabhängigkeitstag in Amerika. Zeitungen und Fernsehnachrichten berichten von Feiern im ganzen Land. Die New York Times hatte auf der Titelseite ein Bild aus Muscoot Farms, New York: kleine Mädchen auf dem Rasen beim traditionellen Sackhüpfen, wie es schon in der Kolonialzeit üblich war. Auf der letzten Seite eine Wiedergabe der echten handgeschriebenen Unabhängigkeitserklärung. Im ganzen Land kriegen die Bürger Kopfschmerzen vom Feuerwerk, und die Straßen sind verstopft mit Leuten auf dem Weg in Parks und Freilichttheater, um sich dort die besten Plätze für Raketen, Hot dogs, Cokes und... Kopfschmerzen zu sichern.

An diesem Tag fragen sich ernsthafte Menschen, was es bedeutet, Amerikaner zu sein. Was zum Beispiel verrät uns die O.J.- Simpson-Affäre über unser Land? Die Geschichte seiner gewalttätigen Ehe, seiner Scheidung, des Mordes, der Verfolgungsjagd auf den Autobahnen von L.A. und der Einleitung des Strafverfahrens hat die Nachrichten überschwemmt. Es ist schlimmer als bei Jackies Tod. Jetzt gibt es schon Medienfeatures über Medienfeatures, mit durchschlagenden Überschriften wie: „Warum wir von O.J. im Fernsehen nicht genug kriegen können“. Seit dem Haftbefehl für O.J. kann ich nicht mehr einkaufen gehen, ohne mich durch diskutierende Kunden drängeln zu müssen. „Er hatte einen blutigen Handschuh im Auto – nein, der war in seinem Haus, oder...“ sagte eine Frau in der Getränkeabteilung bei Fairway, meinem Lieblingsladen – er hat einen sägemehlbestreuten Dielenfußboden und eine Auswahl, daß das KaDeWe neidisch werden könnte. „Das ist Schiebung“, sagte eine andere und versperrte mir den Weg zur Zitronenlimonade. „Wie können Sie Nicole vergessen?“ schrie eine dritte. „Diesem Land ist das Schicksal geschlagener Frauen egal...“ Mag ja sein, aber die Nicole-Partisanin blockierte das Regal mit dem Tomatensaft und den anderen Sorten. Ich entschuldigte mich und fragte, ob ich mir an ihr vorbei mal gerade einen o.j. rüberlangen könnte (auf supermarktsch ist das ein Orangenjuice). Ich hätte etwas vorsichtiger sein können bei meiner Wortwahl.

Ich wollte ein paar Freunde bewirten, die schlau genug sind, sich am 4. Juli aus Menschenmengen herauszuhalten, wo man sich mit Senf bekleckert und auf Kopfschmerzen wartet. Sie kamen herüber, um sich ihre Kopfschmerzen auf die althergebrachte Weise zu holen. Wenn kein Orangensaft zu kriegen ist, kippen wir uns vielleicht gleich Alka Seltzer in den Sekt – ein verdünnter Trauercocktail für alle Menschen mit einem schlechten Tag, wie O.J.

Ich mache mir meine eigenen Gedanken, was uns O.J.s Geschichte über Amerika verrät: Sie klärt uns auf über den Wert der Konkurrenz. Die O.J.-Geschichte konkurrierte fair mit allen anderen Nachrichten, und sie gewann – die stärkste überlebte. Andere Themen brauchen Amerikaner nicht zu interessieren.

So sollte es auch sein in einem Land, das durch die Konkurrenz groß geworden ist. Ein bißchen Sorge macht mir nur, daß Amerika seinen Schwung verliert. Damit meine ich nicht die Wirtschaft, die hinter Japan oder Deutschland zurückfällt. Ich meine den Kerl in Pittsburgh, der eine Bank ausrauben wollte und seine „Dies ist ein Überfall“- Nachricht auf die Rückseite einer einstweiligen Verfügung schrieb, die gegen ihn ergangen war. Oder den Möchtegern-Räuber in Detroit, der seine Nachricht auf einen an ihn gerichteten Briefumschlag schrieb, oder der Knabe in Connecticut, der ein Auszahlungsformular benutzte, auf dem sein Name und seine Kontonummer ausgedruckt waren. Amerika wurde groß, weil es andere ausnahm: Postkutschen, Eisenbahnen, Mittelamerika. Hätten wir mit solcher Inkompetenz die Hälfte von Mexiko an uns reißen können?

Solche Pannen bedeuten doch nur, daß wir unseren Nationalcharakter einbüßen – keine schöne Vorstellung am Unabhängigkeitstag. Mich trösten bloß die Berichte über jene Amerikaner, die unseren Traditionen treu geblieben sind: Patricia Lavann Haslip wurde in Los Angeles angeklagt, weil sie ihren Ehemann erschoß – beim Ausfüllen der Formulare zum großen 10-Millionen-Dollar-Familien-Preisausschreiben hatte er einfach zu viele Fehler gemacht. William Bronson soll angeblich zwei Supermarkt-Angestellte in Birmingham, Alabama, erschossen haben, weil sie ihn vor Ladenöffnung nicht auf das Männerklo gehen lassen wollten. Ein vierzehnjähriger Junge in Metairie, Louisiana, erschoß seine Lehrerin, weil die ihn in die erste Reihe setzen wollte. Larry Dean Weaver aus Allentown, Pensylvania, schlug seine Mutter zusammen – aus Wut, weil er es nicht schaffte, seinen Videorecorder an seinen Fernseher anzuschließen. Jose Archuleto aus San Antonio in Texas fiel über den Fahrer eines Eiswagens her, weil der mehrmals über seinen Lautsprecher das Kinderlied „Weg ist das Wiesel“ abgespielt hatte. Marlene Lenick schließlich, sechzig Jahre alt, steht in Sewell's Point in Florida unter Anklage: Sie soll ihren Ehemann erschossen haben, nachdem der verkündet hatte, er wolle sich im Fernsehen noch ein Footballspiel anschauen.

Ich glaube, Mrs. Lenicks Geschichte werde ich den Damen am Saftregal erzählen: Es ist die Antwort der amerikanischen Frauen auf O.J. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen