Short Stories from America: Zerrissene Stammesloyalität
■ Der Mord an Rabin verstörte vor allem das jüdische Ausnahmebewußtsein
Nach dem Sabbatgottesdienst am 4. November war ich zum Essen bei einem Dichter eingeladen. Neben mir saß ein doppelter Doktor der Philosophie und Medizin. Er erzählte mir von einem Artikel, den er gerade über den jüdischen Militarismus schrieb. Der unterscheide sich, sagte er, von anderen Militarismen wegen seiner Selbstbeschränkungen. Gott gibt den Israeliten den Auftrag, unter anderem die Kanaaniter, Ugariten und Moabiter zu vertilgen, damit sie ein Land haben, in dem sie Israeliten sein und nach ihren Werten leben können. Aber aus Habgier dürfen sie nicht erobern.
Mehr um ihn zu necken, fragte ich, ob das Kanaanitern wohl als Fortschritt erscheine. Man weiß ja, daß auch die USA immer nur zur Verteidigung der Demokratie in den Krieg ziehen und zu Hause die Messer wetzen, um ihre Kultur und ihre Werte zu schützen. Mein Nachbar meinte, ich verwische den Unterschied zwischen einem Militarismus zur Verteidigung „der Gruppe“ und den Argumenten, wer „die Gruppe“ sei. Ich sagte, diese Fragen verwischten sich selbst, denn die Entscheidungen über die Verteidigung der Gruppe werden davon bestimmt, wer zu „uns“ gehört und wer nicht. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt stießen eine junge Studentin und ihr Mann zu uns und berichteten, Jitzhak Rabin sei erschossen worden.
Am nächsten Tag diskutierten die amerikanischen Juden die politischen Konsequenzen: Entweder wird der Extremismus dieser Tat die israelische Rechte diskreditieren und den Friedensprozeß voranbringen. Oder die Fundamentalisten beider Seiten werden im Extremismus die neue Waffe sehen. Oder auch beides oder irgend etwas dazwischen. Schwerer fiel es, über den Schock zu sprechen: Dieses Attentat ist ein Frevel gegen das jüdische Ausnahmebewußtsein. Damit meine ich nicht einfach, daß es die Überzeugung von der jüdischen „Auserwähltheit“ beleidigt. Die Juden wußten sich seit Jahrhunderten mit Vorstellungen von spezifisch jüdischen „Tugenden“ zu schmeicheln – zum Beispiel Buchgelehrsamkeit, Mitgefühl und Loyalität gegenüber anderen Juden. Letztere verhinderte angeblich Streitigkeiten zwischen Juden, ganz zu schweigen von Gewalt.
Aber die amerikanischen wie die israelischen Juden haben diese Tugenden schon lange als Werkzeuge der Unterdrückung entlarvt. Anscheinend ist das einzig „Besondere“ an der jüdischen Existenz der Antisemitismus. Wenn der verschwindet, assimilieren sich die amerikanischen Juden und werden genauso grob wie jeder Neureiche. Sobald die Büchermenschen nicht mehr aufs Lesen beschränkt sind, wollen sie Geld und Sex wie alle anderen auch. Sie bauen eine Polizei auf, leisten sich eine Besatzungsarmee oder werden Republikaner.
Und jetzt können Juden eben auch Mörder sein. Die Kriege auf der Westbank waren Vorspiel genug: Die Juden sind von den Ereignissen des 5. November schockiert und verletzt – aber nicht, weil sie überrascht sind. Der Schock liegt in der Selbsterkenntnis: „Auserwählt“ sein zu wollen, obwohl man weiß, daß das ein Schmarren ist; einem auserwählten „Wir“ angehören zu wollen, dem wunderbare Tugenden zu eigen sind; zum Beispiel eine besondere Theorie des jüdischen Militarismus finden zu wollen.
Am Tag nach dem Attentat zitierte die amerikanische Presse Juden, die sich fragten, wie „Juden andere Juden töten können“. Der Mord erinnert – indem er den Mythos der Stammesloyalität zerriß – die amerikanischen (und vermutlich auch einige israelische) Juden an ein Gefühlsleben, das im besten Falle suspekt ist. Und er erinnert uns daran, daß der Mythos der Loyalität wächst, wenn die Loyalität in der Realität gescheitert ist. Hätte im Stetl ein Jude einen anderen angegriffen, hätte sich die Gemeinde mit dem Problem auseinandergesetzt, weil es unter den Augen und der Herrschaft der gojim gar keine andere Wahl gegeben hätte. Heute reicht nicht einmal die arabische Bedrohung aus, um die Juden zusammenzuhalten. Deshalb wird die „Gemeinschaft“ romantisiert. Der Mord läßt diese Illusion platzen, und die Juden sind doppelt geschlagen: durch den Verlust eines Mythos, für den man sie zu schlau hielt, und den realen Zerfall ihrer Gesellschaft.
Ich denke da eher zynisch: Ich weiß, daß das jüdische Ausnahmebewußtsein Unsinn ist. Aber dennoch ist es in meinem Alltag lebendig. Ich bin nicht überrascht, wenn mein Tischnachbar bei einer Sabbatfeier doppelter Doktor ist. Ich staune eher über jüdische Konservative und noch mehr über dumme Juden – die nationale Sünde.
Ich weiß, daß es jüdische Alkoholiker gibt und auch jüdische Kinderschänder, aber wenn ich von einem höre, bin ich persönlich schockiert. Obwohl die meisten Männer, die mich schlecht behandelten, Juden waren, kann ich mir eine engere Beziehung mit Nichtjuden nicht vorstellen. Und schließlich gehe ich gegen alle Vernunft davon aus, daß Juden schlau genug sein sollten, sich den Mythos des Ausnahmebewußtseins vom Leibe zu halten. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen
von Meinhard Büning
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