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Serben und Montenegriner wählen erstmals ein MehrparteienparlamentSerbien will sich „national erneuern“

■ Über sechs Millionen Bürger in der größten und kleinsten Republik des wirtschaftlich gebeutelten Vielvölkerstaates Jugoslawien wählen am Sonntag Parlament und Präsident ihrer Republiken

VON ROLAND HOFWILER

Wieder wird gewählt in Jugoslawien. Über sechs Millionen Bürger in Serbien und Montenegro sind aufgerufen, erstmals seit Kriegsende über die Zusammensetzung eines Mehrparteienparlaments zu entscheiden und in Direktwahl ihre Republikpräsidenten zu bestimmen. Schon jetzt ist sicher, daß mindestens eine Million am Wahlsonntag erst gar nicht an die Urne gehen werden. Und ob die internationalen Beobachter die Wahlen dann als wirklich „frei und demokratisch“ werten werden, das ist noch die große Frage.

Der Hintergrund: Jugoslawien ist im Zuge der revolutionären Umbrüche in Osteuropa immer mehr in die Schußlinie geraten, „zusammen mit Albanien das letzte bolschewistische Bollwerk“ zu bleiben, wie Regierungschef Ante Marković im Frühjahr erklärte. Denn die jugoslawischen Kommunisten, die sich zwar zum Jahreswechsel einen neuen Namen gaben, sich seitdem als „Sozialisten“ ausgeben, fühlten sich so wohl im Sattel, daß sie an irgendwelche Mehrparteienwahlen gar nicht denken wollten. Es waren Marković und ein Häufchen Dissidenten, die einmal von oben, einmal von unten auf Reformen drängten. Das Ergebnis: In der Republik Slowenien und Kroatien kam es in Windeseile zu großen Veränderungen. Schon im Frühjahr wurde gewählt — mit dem Ergebnis, daß die bis dahin alleinregierenden Kommunisten das Nachsehen hatten. Das brachte aber die Genossen in den anderen Republiken auf den Plan, die mit dieser Niederlage nicht fertig wurden. Sie spielten auf Zeit, um sich neue Mäntelchen umzuhängen. So liegt es noch keinen Monat zurück, daß in Mazedonien und Bosnien die Bürger an die Urnen traten. Die amtlichen Endergebnisse liegen jedoch noch immer nicht vor — angeblich wegen „Unregelmäßigkeiten“ und weil immer wieder eine Partei einen Vorwand fand, den Wahlablauf anzufechten.

Serbien: ein „souveräner Staat der Serben“

Noch Verrückter ist das Bild in Serbien und Montenegro. Skandale über Skandale häuften sich in den letzten Wochen. Bekanntlich ist Jugoslawien ein bunter Vielvölkerteppich. Rein ethnische Grenzen abzustecken, ist einfach unmöglich. Und gerade dies wollen seit dem Niedergang der Kommunisten die neuen bürgerlich-demokratischen Parteien. Von über 52 Parteien, die am Sonntag zur Wahl antreten, sind sich die Protagonisten fast alle darin einig, einen Nationalstaat errichten zu wollen. Geht es nach Vuk Drasković von der „Serbischen Erneuerungsbewegung“ — nach Wahlprognosen zur Zeit der populärste Politiker Serbiens — oder nach seinen Herausforderern Vojislav Sesělj vom rechten Rand oder Slobodan Milosević, derzeitiger „Staats“- und Parteichef der „Sozialistischen Partei“ Serbiens, dann ist Serbien ein „souveräner Staat der Serben“. Kein Wort davon, daß Serbien verfassungsrechtlich nichts weiter als eine Republik von sechs weiterer Republiken innerhalb der jugoslawischen Föderation bildet. Und daß in Serbien unzählige Minderheiten leben: Albaner, Ungarn, Kroaten, Muselmanen, Türken, Roma, Mazedonier u.a.m. Mehr noch: Bis vor dem „Verfassungsputsch“ Anfang des Jahres gab es im Süden Serbiens eine autonome Provinz der Albaner und im Norden die der Ungarn. Beide wurden über einen „Ausnahmezustand“ abgeschafft.

Der Norden Jugoslawiens reagierte darauf mit einem Handelskrieg und mit dem Wunsch, dem „faschistoiden Serbien“ (so der kroatische Präsident Fanjo Tudjman) den Rücken zu kehren. Tudjman und sein slowenischer Amtskollege Milan Kucan möchten lieber heute als morgen von der jugoslawischen Staatsidee Abschied nehmen. Bei der EG, dem Europa- Rat und der UNO bittet man um Aufnahme als „souveräne Staaten“ — es sei denn, Serbien besinne sich zu „europäischen Traditionen zurück“ (Kucan) und beende die Unterdrückung aller Nicht-Serben.

Gerade dies schien nicht in Sicht zu sein. Die Kosovo-Parteien der Albaner riefen für den kommenden Sonntag zum Wahlboykott auf, und man kann sicher sein, daß ihn die 1,7 Millionen Kosovo-Albaner befolgen werden. Denn obwohl sie in der ehemaligen Kosovo-Provinz 90 Prozent der Bevölkerung stellen, haben sie weder albanischsprachige Zeitungen noch albanischsprachige Rundfunk- und Fernsehprogramme. Erinnert sei außerdem daran, daß allein in diesem Jahr über 60 Albaner bei Demonstrationen ums Leben kamen, als serbische, aber auch Bundespolizisten wahllos in die Demonstrationszüge schossen. Bei weitem friedlicher, jedoch nicht minder besorgniserregend ist die Lage in der Vojvodina. Die dort lebenden Ungarn fühlen sich an Ceausescu-Zeiten erinnert, als der die Siebenbürger-Ungarn brutal zwangsassimilierte. In der Vojvodina vollzieht sich ein ähnlicher Prozeß wie in Kosovo: Schulen werden für die ungarische Minderheit geschlossen, die Medien drucken nur serbische Erklärungen ab, und die Kulturhoheit wird mehr und mehr eingeschränkt. Auch in der Vojvodina rufen die meisten Parteien zum Wahlboykott auf.

Minderheiten: Zwangsassimilierung oder Ausgrenzung

Ein Wahlboykott, den Ende November gar die größten demokratischen Parteien der Serben unterstützten. Man wollte sich als Demokraten zeigen und sich von Milosević, auf dessen Konto all diese Unterdrückungsmaßnahmen verbucht werden können, abgrenzen. Doch dann zeigte sich bald, daß die serbische Bevölkerung mehrheitlich hinter dem Gedanken steht, einen Nationalstaat zu errichten und die Kosovo-Albaner, Vojvodiner Ungarn und andere Minderheiten lieber heute als morgen zu assimilieren oder sie zur Abwanderung, wohin auch immer, zu bewegen.

Obwohl Jugoslawien wirtschaftlich vollkommen am Boden liegt, dominiert bei allen großen serbischen Parteien die „nationale Erneuerung“. Gerade die „Serbische Erneuerungsbewegung“ von Vuk Drasković wird als Wahlsieger gehandelt, an zweiter Stelle dann die nicht minder nationalistischen „Sozialisten“ des Slobodan Milosević. Danach die „Freiheitliche Partei“, die „Radikale Partei“ und dann möglicherweise erst jene Parteien, die den Albanern und Ungarn wieder die Autonomierechte zurückgeben wollen — wie die „Sozialdemokraten“ des Dissidenten Milan Nikolic, die „Grünen“ des Intellektuellen Dragan Jovanović und auch Ante Markovićs „Bund der Reformkräfte“.

Auf Marković hatten viele gesetzt. War er es doch, der, zwar als Wendekommunist, im Frühjahr die Weichen für eine moderne Demokratie gestellt hatte. Doch in den vorangegangenen Wahlen in Bosnien und Mazedonien schnitt Marković so schlecht ab, daß viele glauben, seine Tage als gesamtjugoslawischer Regierungschef seien gezählt. Es ist ihm trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, die Minderheiten Serbiens, die mindestens 20 Prozent der Einwohner stellen, hinter sich zu vereinen. Sie ziehen den Wahlboykott noch immer vor und sorgen für sehr instabile politische Verhältnisse.

Es war die Regierungszeitung 'Borba‘, die schon vor Wochen prophezeite, „auch Wahlen helfen Jugoslawien nicht“. Zu Jahresbeginn, so war zu lesen, wenn in allen Republiken demokratische Mehrparteienwahlen stattgefunden hätten, könne man eine Neugestaltung des kommunistisch geprägten Jugoslawien in Angriff nehmen — jenseits aller nationalistischen Irrationalitäten, mit Vernunft und Würde. Zwar ist der Ausgang der serbischen und montenegrischen Wahlen noch offen. Aber der Schlüssel, wie man den Vielvölkerstaat vor Chaos und möglichem Bürgerkrieg schützen kann, ist noch nicht gefunden.

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