■ Seit drei Monaten sitzt ein Mann in U-Haft – wegen eines Gramms Tetrahydrocannabinol: Das Büschel „Gras“ aus Balkonien und der Richter
Berlin (taz) – Matthias G. (34) führte einen Getränkegroßhandel bei Chemnitz. Als er in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, hätte er handeln müssen, tat es nicht oder tat es zu spät. Am 21. April dieses Jahres wurde eine Hausdurchsuchung bei ihm vorgenommen. Belastendes Material wurde zwar nicht entdeckt, doch die überaus eifrigen Ordnungshüter wurden anderweitig fündig: aus einem Tütchen fischten sie etwa 120 Gramm minderwertiges Marihuana aus Deutsch-Balkonien.
Was daraufhin folgte, ist allerdings mit dem Wort „skandalös“ womöglich nur unzureichend beschrieben: am gleichen Tag erging Haftbefehl gegen Matthias. Gleichzeitig wurde Untersuchungshaft angeordnet. „Der Stoff“ wurde zur Untersuchung an das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen gesandt, das am 11. Mai in einem Gutachten auch noch feststellte, die untersuchten Blätter und Stiele hätten insgesamt 1,32 Gramm des Hauptwirkstoffes Tetrahydrocannabinol (THC) enthalten.
Eine Menge, die gelegentlich zur Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit führt. Nicht so jedoch am Amtsgericht zu Chemnitz. Zwar fand bereits einen Tag später, am 12. Mai, ein Haftprüfungstermin statt. Doch ordnete der zuständige Richter Förster daraufhin – in Kenntnis des Gutachtens – Haftfortdauer an. Begründung: Fluchtgefahr! Die hanebüchene Anklage: „Anbau und Herstellung von Betäubungsmitteln“.
Am 29. Juni, über einen Monat später, legte Matthias' Anwalt, Dr. Günter Rohde, Haftbeschwerde mit der Begründung ein, die festgestellte Menge THC sei zu geringfügig, um eine Haft zu rechtfertigen. Außerdem sei in diesem Falle das günstige soziale Umfeld seines Mandanten zu berücksichtigen, seine familiären Bindungen, vor allem jedoch das in den letzten drei Jahren entstandene Vertrauensverhältnis zu dem fünfjährigen Sohn seiner Freundin.
Zunächst tat sich nichts, der Richter weilte im Urlaub. Aus diesem zurückgekehrt, tat sich noch immer nichts: der Richter konnte auf seinem Tisch einfach keine Haftbeschwerde finden. Bis heute ist darüber nicht entschieden. Die Sache wird bewußt verschleppt.
Matthias' Freundin, Gaby H., versteht schon lange nicht mehr, „was da abläuft“. Zunächst hatte sie vermutet, die zuständigen Beamten hätten „das Gras möglicherweise mit Heroin verwechselt“. Mittlerweile jedoch, nachdem sie erfahren mußte, daß sie ihren Freund „im Monat zweimal für jeweils dreißig Minuten besuchen darf“, vor allem aber, nachdem ihr Richter Förster großzügig „angeboten“ hatte, Matthias natürlich sofort auf freien Fuß zu setzen, wenn sie „die Kaution in Höhe von 180.000 DM bezahlen“ könne, glaubt auch sie an eine unverhältnismäßige Härte, deren Beweggründe sich ihr jedoch nicht erschließen. Immerhin würde doch seit über einem Jahr in Deutschland ganz offen darüber diskutiert, Cannabis zu legalisieren. Spätestens jedoch mit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes im März 1992 durch den Richter der zweiten Kammer des Lübecker Landgerichts, Wolfgang Neskovic, die Strafbewehrung von Konsum und Weitergabe von Cannabis (Aktenzeichen: 2 Ns 167-90) für grundgesetzwidrig im Sinne der Gleichbehandlung mit den Drogen Alkohol und Nikotin zu erklären, sei dieses Vorgehen doch nur noch als skandalös zu bezeichnen. Immerhin hätten sich bereits 13 Gerichte dieser Beschlußvorlage an das BVG angeschlossen, darunter die Landgerichte Osnabrück, Hildesheim und Frankfurt.
Ein weiterer Grund für ihre und Matthias' Verwirrung: die Vollzugsanstalt in Chemnitz ist überfüllt. Praktisch täglich werden Körperverletzer, Einbrecher, Diebe oder Alkoholsünder zwecks „Raumbeschaffung“ vorzeitig entlassen.
Matthias G. sitzt derweil weiterhin in Untersuchungshaft. Ein Ende der absurden und demütigenden Situation, eines Amtsrichters wegen, der sowohl überfordert als auch offensichtlich bemüht ist, das barbarische Stammtisch- Niveau in Sachsens Gerichtssälen hoffähig zu machen, scheint nicht in Sicht: der „Fall“ wurde nunmehr an das Landgericht Chemnitz abgegeben. Philippe André
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