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■ Seit 50 Jahren können sich Indien und Pakistan nicht vom Fluch befreien, als Hindu- und Muslimstaat geboren zu seinDie ewige Mitternacht

In seinem Roman „Midnight's Children“ prägte der indischstämmige Schriftsteller Salman Rushdie 1981 den Begriff der Mitternachtskinder – jene angeblich 1.001 Menschen, die genau in jener historischen Nachtstunde vom 14. auf den 15. August 1947 geboren wurden, als Britisch-Indien aus der Geschichte verschwand und die unabhängigen Staaten Indien und Pakistan entstanden. Rushdie, selbst kurz vor der indischen Unabhängigkeit geboren, wurde damals für seinen Pessimismus kritisiert, weil er den noch ungebrochenen Freiheitsmythos von 1947 in Frage stellte und zu prognostizieren wagte, daß die Zukunft Indiens düsterer sein könnte als die schon nicht besonders lichte Gegenwart.

1987 konstatierte Rushdie zum 40. Jahrestag der Unabhängigkeit, er sei damals wohl nicht zu sehr, sondern zu wenig pessimistisch gewesen. In der Zwischenzeit hatten die Ermordung der Premierministerin Indira Gandhi, Tochter des Nationengründers Jawaharlal Nehru, und die nachfolgenden Pogrome gegen die Sikh-Minderheit den Mythos des harmonischen multikulturellen Indien zerschlagen. Von dem Gandhi-Mord 1984 an – auf den 1991 der Mord an Indiras Sohn Rajiv und danach der rapide Aufstieg religiöser Intoleranz folgte – ist die Geschichte Indiens eine des stetig verlorengehenden Abwehrkampfes.

Je mehr die „Mitternachtskinder“ an die Spitze der Politik stoßen, desto mächtiger werden spalterische Tendenzen, die auf die Gründung einer ethnisch oder religiös „reinen“ Gesellschaft als Vorbedingung zum nationalen Aufstieg setzen. Indien und Pakistan begehen nun den 50. Jahrestag ihrer Entstehung, und sie wissen: Eigentlich ist es ein Trauertag. Die Unabhängigkeit wurde 1947 um den Preis einer blutigen Teilung zwischen Hindus und Muslimen gewonnen, in deren Verlauf eine Million Menschen starben und zwölf Millionen ihre Heimat verloren. Während Nehru in der Nacht zum 15. August 1947 in Delhi die „Sprachwerdung der Seele der Nation“ beschwor, beweinte in Pakistan der radikale Dichter Faiz Ahmed Faiz „diesen leprösen Tagesanbruch, den die Klauen der Dämmernacht zerfleischt haben“.

Die Visionen der Führer der Befreiungsbewegung „Indischer Nationalkongreß“ waren eine Totgeburt – sowohl Jawaharlal Nehrus wissenschaftlicher Sozialismus wie auch Mahatma Gandhis Gewaltlosigkeit. Die Hinterlassenschaften von 1947 heißen religiöser Fundamentalismus und ein opportunistischer Politikstil, der brutale Gewaltanwendung als Mittel zum Zweck legitimiert.

Fünfzig Jahre nachdem Indien der Führer der Dritten Welt sein wollte, leben in keinem Land der Welt heute mehr Menschen in absoluter Armut als in Indien. China hat Indien als asiatische Macht längst abgehängt. Sogar Malaysia ist auf der diplomatischen Bühne heutzutage reger. Die „Indische Volkspartei“ (BJP), die den Hinduismus anstelle des Säkularismus zur Grundlage der Republik machen will, hat die Kongreßpartei als aufsteigende ideologische Kraft Indiens überflügelt und reklamiert inzwischen offen das Erbe der Kongreßgrößen Nehru und Gandhi. Pakistan findet aus dem Teufelskreis von ziviler Korruption und Militärdiktatur nicht heraus, ebensowenig wie sein ehemaliger Bestandteil Bangladesh, der zudem Synonym für die menschliche Ohnmacht gegenüber den Ganges-Fluten geworden ist. Die gegenseitige militärische Selbstbehauptung bis hin zur Atombombe kostet Indien und Pakistan Unsummen und hat bereits zu mehreren verlustreichen Kriegen geführt.

Die Art, wie jetzt gefeiert wird, ist aufschlußreich. In Indiens Hauptstadt Delhi werden zwei Straßen umbenannt. In Bombay setzt sich die Hindu-fundamentalistische Stadtverwaltung zum Ziel, daß am 15. August kein Müll mehr auf den Straßen liegt. Das ist alles, was von den großen Träumen von 1947 noch übrig ist. Indien und Pakistan sind gescheitert.

Dieses Scheitern ist auch das Scheitern der Idee, Konflikte in multikulturellen Gesellschaften ließen sich durch Spaltung, Teilung und den Traum von der ethnischen oder religiösen Reinheit lösen. Aus ihrem Fluch, als Hindu- beziehungsweise Muslimstaaten geboren worden zu sein, finden Indien und Pakistan nicht heraus. Eigentlich müßte das auch eine Hoffnung bergen – nämlich die einer Rehabilitation des multikulturellen Gedankens, für dessen Verteidigung Intellektuelle wie Salman Rushdie selbst in ihrer Heimat inzwischen Haßfiguren sind.

Bislang ist von einer solchen Rehabilitation nichts zu spüren, denn die Idee der ethnischen Separation ist ungebrochen salonfähig – gerade weil sie von der britischen Diplomatie immer wieder neu aufgelegt wird. Die britische Politik des „Teile und herrsche“, die aus Gedankenlosigkeit über Leichen geht und letztendlich immer zu Teilung ohne Herrschaft führt, hat nicht nur Indien zerrissen, sondern auch davor Irland und Palästina und dadanach Zypern und Bosnien. Nicht zufällig sind das alles bis heute Brennpunkte der Weltpolitik, an denen alte Konflikte scheinbar unlösbar überdauern.

Und trotz aller Verbrechen, Morde und Vertreibungen gibt es keinerlei Anzeichen von Selbstkritik. Statt dessen begrüßt London, daß Großbritannien durch Einwanderung ehemaliger Kolonialsubjekte zu einer multikulturellen Gesellschaft geworden ist. Nur bleibt ausgeblendet, daß viele dieser Einwanderer Opfer der genannten Konflikte und ihrer sozialen Folgen waren und vor allem deshalb eine neue Heimat suchten. Und die neue Regierung Blair mag wohl nicht daran erinnert werden, daß ihr leuchtendes Reformvorbild, die Labour-Regierung zwischen 1945 und 1951, die Katastrophen von Indien/Pakistan und Israel/Palästina verantwortete.

Für Großbritannien ist der Sommer 1997 die Saison des Abschieds von imperialer Größe. Mehr noch als die Übergabe Hongkongs an China ruft der Jahrestag der indischen Teilung jedoch in Erinnerung, daß der Verlust des Empire für Großbritannien vor allem eine Befreiung von der Last der eigenen Geschichte darstellt. Es ist nur folgerichtig, daß nicht die Konservativen damit umgehen müssen, denen eine gewisse Nostalgie für das Alte anhängt, sondern „New Labour“, das für das Abschütteln der Vergangenheit insgesamt steht. Tony Blairs „New Britain“ ist der Traum von der unschuldigen Morgenröte, von keinerlei Präzedenzfällen beschwert und keinerlei Selbstzweifeln geplagt. Was wiegen dagegen schon die Millionen indischen Toten von 1947, die heute eine unbeschwerte Selbstfeier unmöglich machen. Dominic Johnson

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