Schulschwänzer unter zehn Jahren: Bußgelder für Gammler-Eltern
Die Stadt Mannheim erfasst seit 2001 ihre Schulschwänzer und stellt erstaunt fest, dass fast 30 Prozent davon nicht einmal zehn Jahre alt sind. Die Eltern müssen deshalb Strafe zahlen.
STUTTGART taz An Spielkonsolen in Elektronikmärkten sind sie nicht anzutreffen, sagt Ulrike Scheurich vom Jugendamt in Mannheim. Dort daddeln ohne Wissen der Eltern die älteren Schulschwänzer. Die Jüngeren, unter zehn Jahre alt, sind dagegen fast immer daheim.
Die Zahl hat die Stadt überrascht: 27,5 Prozent der Schüler, die im Unterricht ohne Entschuldigung fehlen, sind sechs- bis zehnjährige Grundschüler. 30,2 Prozent sind 11 bis 14 Jahre alt, der Rest über 15 Jahre. Seit dem Schuljahr 2002/2003 erfasst das baden-württembergische Mannheim die Zahl der Bußgeldverfahren gegen Eltern, die ihre Sprösslinge unregelmäßig zur Schule schicken. Polizei, Jugendamt, Elternvertreter und soziale Dienste arbeiten zusammen, um Programme gegen Schulschwänzer und Hilfsangebote umzusetzen. Fehlen sie aufs Schuljahr verteilt an mehr als drei Tagen unentschuldigt, geht ein Erinnerungsschreiben an die Eltern, oft suchen die Lehrer ein Gespräch. Nach je drei weiteren Tagen gibt es eine Mahnung, danach sind mindestens 40 Euro Bußgeld fällig. 0,8 Prozent der Eltern traf es im vergangenen Schuljahr. Ein Drittel der Fälle, insgesamt fast 50, betraf Grundschulen.
Die Zahl der Fälle scheint zwar gering, dahinter verbirgt sich jedoch ein bundesweites Phänomen. Schulschwänzende Grundschüler werden offenbar politisch kaum wahrgenommen, sagt Scheurich. Hilfsprogramme sind rar. Das EU-geförderte "Die zweite Chance" etwa richtet sich an Schüler über 12 Jahre. Das Deutsche Jugendinstitut unterhält eine bundesweite Datenbank über Programme für schulmüde Jugendliche, gerade mal vier wenden sich an Kinder unter 10 Jahren. Auch die meisten Schwänzer-Statistiken beginnen mit der fünften Klasse. In Berlin werden seit dem Schuljahr 2007/2008 Grundschulen in dem Bereich nicht mehr aufgeführt.
Dabei zeigen Studien im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts, dass Biografien notorischer Schulschwänzer oft im Grundschulalter durch Frust und Misserfolge beginnen. Manchmal sind es psychisch kranke Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule bringen, manchmal schlichtes Desinteresse, manchmal sind die Eltern nicht in der Lage, eine Entschuldigung zu formulieren. In Mannheim gibt es noch keine Auswertung nach Ursachen und Schwerpunkten des Problems: Fast 20 Prozent der Einwohner der Stadt haben keinen deutschen Pass, man will nicht vorschnell Schlüsse ziehen, die Vorurteile schüren.
Kritik an dem Anti-Schulschwänzer-Projekt kommt von Egon Schweiger vom Verband Deutscher Sinti und Roma. Das Mannheimer Modell sei ein reines Kontrollinstrument, ein pädagogischer Ansatz fehle dabei, sagt er. Schulschwänzen sei ein Problem in armen Familien, bei denen die Wertschätzung von Bildung keine Rolle mehr spiele. Oft sei es ein Problem über Generationen hinweg, wie bei den Sinti und Roma. Nach Verfolgung und Ermordung im Dritten Reich gab es in der Bundesrepublik zunächst fast keine Hilfe für sie, später ging sie an ihren Bedürfnissen vorbei. Er fordert individuelle Betreuung von Familien und Kindern, die auch das Problem der Mehrsprachigkeit erfasst. Dazu müssten zunächst die Schulen besser ausgestattet werden. Baden-Württemberg stecke jedoch in die Förderung für Hochbegabte pro Schüler ein Vielfaches der Mittel, die für Schulschwänzer mit Lernproblemen zur Verfügung stehe.
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