Schule der Zukunft: Einmal im Rollstuhl des anderen fahren
Nachhaltiges Lernen an Schulen umfasst mehr als Mülltrennung oder Energieeffizienz. Auch der soziale Aspekt von Nachhaltigkeit soll unter Schülern gestärkt werden.
Eine aktuelle Studie der Schweizer Bildungskoalition zeigt, dass Kinder und Jugendliche – entgegen aller Vorurteile – ein starkes Interesse an sozial- und umweltpolitischen Fragen haben. So fordern sieben von zehn der befragten Schüler mehr Fächer wie "Nachhaltigkeit" im Lehrplan. Diese Ergebnisse kann der Umweltexperte Tilman Langner aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Seit zehn Jahren hilft er freiberuflich Schulen bei der Umsetzung nachhaltiger Themen und leitet das "Öko- beziehungsweise Nachhaltigkeits-Audit".
"Ich unterstütze gerne Projekte, bei denen sich die Schüler mit einbringen können", sagt Langner. Sein ursprüngliches Ziel war es, das Umweltbewusstsein an Schulen zu fördern, zum Beispiel durch Energieeinsparung oder Mülltrennung. Mittlerweile sieht er aber auch die Dringlichkeit sozialer Belange: "Die Frage, wie wir miteinander umgehen, ist von zentraler Bedeutung."
Die Katholische Grundschule Düsseldorf - kurz KGS - hat vor ein paar Jahren unter Anleitung von Langner und Klaus Kurz, Projektkoordinator des Düsseldorfer Netzwerkes "Bildung für nachhaltige Entwicklung", einen Anfang gewagt. Den Anstoß gab ein Öko-Audit, bei dem Schulen freiwillig ihr Umweltverhalten überprüfen, verbessern und offenlegen konnten. "Eine Kollegin ermutigt, auch mal in einer Grundschule einen Nachhaltigkeitsbericht zu erarbeiten", sagt Ursula Weißenfels, Schulleiterin der KGS.
So veröffentlichte die KGS 2005 schließlich als erste Grundschule Deutschlands "Umwelt als Gabe und Aufgabe" eine Umwelt- und Nachhaltigkeitserklärung. "Letztendlich ist ein Nachhaltigkeitsbericht ein Instrument der Organisationsentwicklung", sagt Langner. Der Bericht diene als Hilfsmittel, um Fortschritte und Ziele zu formulieren, für die Schule selbst und nach außen. Für ihr vorbildliches Handeln in Umweltfragen wurde die Schule von der UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung 2005 – 2014" ausgezeichnet.
Solidarität mit Schwächeren
Das Projekt "Umwelt als Gabe und Aufgabe" wird an der KGS in vielen unterschiedlichen Bereichen umgesetzt. Umweltschutz und Nachhaltigkeit mit jüngeren Schülern umzusetzen, sei dabei etwas ganz anderes, als mit älteren Kindern zu arbeiten, so Schulleiterin Weißenfels. "Ausgangspunkt bei uns war die Mülltrennung – die machen wir ja heute noch. Und der Schulhof und der Spielplatz werden regelmäßig mitgesäubert."
Soziale Gesichtspunkte spielen auch eine entscheidende Rolle, vor allem da sich die Katholische Grundschule Düsseldorf mittlerweile zu einer Ganztagsschule entwickelt hat. "Die Lehrer haben sich ein Jahr darauf vorbereitet, wie sie den Raum und die Zeit mit den Kindern am Nachmittag sinnvoll nutzen können", sagt Umweltexperte Langner. So gibt es zum Beispiel einen gemeinsamen Mittagstisch von Lehrern und Schülern.
"Es soll nicht nur eine Zeit sein, in der Kinder beaufsichtigt werden", so Langner über das Konzept der KGS. Zudem öffnet sich die Schule nach außen. Ziel ist es, die Bewohner durch ein eigens geschaffenes Netzwerk zu verbinden. Es gibt regelmäßig Veranstaltungen der Schule, zu denen auch Eltern, Geschwister oder ehemalige Schüler eingeladen sind. Von diesen gemeinsamen Nachmittagen sollen vor allem Kinder und Jugendliche profitieren, die sozial isoliert leben.
An der Hulda-Pankok-Gesamtschule, die ebenfalls im Düsseldorfer Agenda-Projekt "Öko-Audit/Nachhaltigkeits-Audit" vertreten ist, werden behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam unterrichtet. Mitmenschlichkeit und Toleranz stehen im Mittelpunkt – das Motto "Es ist normal, verschieden zu sein", soll im Alltag gelebt werde. Um sich etwa in die besondere Lebenssituation von körperbehinderten Menschen hineinversetzen zu können, haben sich die Jugendlichen die Rollstühle ihrer Mitschüler einmnal ausgeliehen.
Bei dem Experiment wurden sie mit Schwierigkeiten konfrontiert, die sie vorher überhaupt nicht wahrgenommen hatten. So hing der Vertretungsplan zu hoch und die Hälfte der Pause verstrich, da der Weg zum Pausenhof von vielen Barrieren gesäumt war. "Die gewonnenen Erfahrungen waren eine gute Grundlage, um gemeinsam ein Konzept zu erarbeiten und so die Schule für körperbehinderten Mitschüler bestmöglich umzugestalten", sagt Langner über das Projekt. Zudem bewirkte die Aktion einen Lernprozess bei den Jugendlichen – sie wurden für die Probleme ihrer Kameraden sensibilisiert.
Schüler als Streitschlichter
Neben sozialen gibt es auch ökologische Projekte an der Hulda-Pankok-Gesamtschule. Die Schülerfirma "Lucky tree" verkauft schulintern umweltfreundliche Büromaterialien. Basis ist eine Arbeitsgemeinschaft, die in der Regel aus 15 SchülerInnen der fünften und sechsten Klassen besteht. Die Materialien müssen ein überprüfbares Warenzeichen - zum Beispiel den "Blauen Engel" - aufweisen, um im Sortiment aufgenommen zu werden. "Lucky tree" soll in erster Linie zum Nachdenken über das eigene Konsumverhalten anregen. Zudem lernen die Schüler durch eigene Recherchen einiges über umweltfreundliche und nachhaltige Produkte.
Natürlich gibt es an jeder Schule – und sei sie noch so vorbildlich - Spannungen untereinander. Hierfür stehen an der Hulda-Pankok-Gesamtschule in Düsseldorf die "Streitschlichter" zur Verfügung. "Ältere Schüler werden speziell ausgebildet, um im Fall von Konflikten zu vermitteln. Dies soll den Kontrahenten die Möglichkeit geben, den Streit vor dem Eingreifen der Lehrer selbst zu schlichten. So kann Verständnis für die andere Seite erzeugt werden", erklärt Langner. Nicht nur die zerstrittenen Parteien profitieren von dieser Regelung – auch die "Streitschlichter" lernen viel über das soziale Zusammenleben. Mittlerweile hat sich die Streitschlichter-AG etabliert und ist ein fester Bestandteil des Schullebens geworden.
Und das positive Feedback der Schüler und Eltern auf den veränderten Schulalltag zeigt, dass die KGS und die Hulda-Pankok-Gesamtschule auf einem guten Weg zu Schule der Zukunft sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin