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Schule der GefühleMitleid mit schlagenden Kindern

Sollte man sich zu Mitgefühl zwingen, wo keines ist? Der Ethikrat ist durch ein Forschungsprojekt zur Verknappung von Spielzeug abgelenkt.

Knappe Ressourcen führen zu Konflikten – auch im Bereich von Sandspielzeug Foto: Jan-Philipp Strobel/dpa

K ürzlich ging ich mit den Kindern auf den nahe gelegenen Spielplatz, um sie auszulüften, und traf dort auf den Ethik­rat. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Zwei der Mitglieder gingen mit einer großen Tasche durch den Sandkasten, während der Vorsitzende ein Kleinkind auf einem hasenförmigen Hüpftier ansprach.

Ich ging näher. „Wie viele Sandschaufeln braucht man deiner Meinung nach?“, fragte der Ratsvorsitzende. Das Kind betrachtete ihn düster. „Guten Tag“, sagte ich, „machen Sie eine Umfrage?“

Der Ethikrat war finanziell oft angespannt, und ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er sich als Umfrage-Sklave verdingte. „Ja“, sagte der Ratsvorsitzende und gab dem Hasen einen aufmunternden Schubs. „Wir sammeln Daten für unsere Studie zu den Veränderungen im Empathieverhalten angesichts der Verknappung von Ressourcen.“ Das düstere Kind stieg vom Hasen ab und versuchte dabei dem Ratsvorsitzenden auf den Fuß zu treten, aber der Vorsitzende übersah es souverän.

„Welche Ressourcen haben Sie dabei im Blick?“, fragte ich. „Da wir unsere Frage auf die nachwachsende Generation beziehen, geht es natürlich um deren Bezugsgegenstände“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte in Richtung der anderen Mitglieder. Ich folgte seinem Blick und sah, wie sie Sandspielzeug in ihre Tasche gleiten ließen. „Fürchten Sie nicht die Eltern?“, fragte ich und deutete auf eine Elternansammlung, die neben Taschen voller Sonnencreme und Knabberstangen auf einer Bankreihe saß.

Die letzte Debatte mit Eltern

Die Eltern haben allen Anlass, sich über die Möglichkeit zu freuen, Teil wissenschaftlichen Bemühens zu sein“, sagte der Ethikratsvorsitzende selbstgewiss. Ich schwieg. „Wie steht es mit Ihnen“, fuhr er fort, „welche Frage treibt Sie um?“ Das düstere Kind näherte sich und begann, mit ­einem Bagger Sand in unsere Richtung zu werfen.

Ich dachte an meine letzte Debatte mit Eltern, in der es um ein nicht mehr kleines Kind von Bekannten gegangen war, das regelmäßig andere Kinder schlug. Eine Mutter hatte das angeprangert, woraufhin einer der Väter gesagt hatte, dass er Mitleid mit dem Kind habe – schließlich könne es nichts dafür, dass seine Eltern nicht einschritten, trotzdem müsse es mit den unfrohen Reaktionen leben. „Das muss die Kita lösen“, sagte er.

taz am wochenende

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Ich war einmal bei einer Veranstaltung des Weißen Rings gewesen, der Vereinigung für Opfer von Kriminalität, wo beklagt wurde, dass unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit bei den Tä­te­r:in­nen und wenig bei den Opfern sei. Aber vielleicht war hier nicht der Ort für kriminologische Exkurse. „Ich habe kein Mitleid mit dem Kind“, sagte ich. „Und wenn der Rest der Kitakinder inzwischen Angst hat, zur Kita zu gehen, dann ist das irgendwann auch eine Abwägung, ob die Mehr- oder die Minderheitsinteressen gewichtiger sind.“

„Ich sagte es und dachte, dass es mitleidslos-kalt klang, und versuchte es noch ein bisschen mit allgemeinen Erwägungen zu bemänteln“, erklärte ich dem Ratsvorsitzenden. „Dass man von außen nie wisse, was die Eltern versucht hätten, und dass das die Schuldfrage unwägbar mache.“ Der Vorsitzende griff beiläufig nach dem Bagger des düsteren Kindes und ließ ihn hinter einen Mülleimer gleiten.

„Mir scheint Ihr Interesse an Ihrer Außenwirkung unverhältnismäßig“, sagte er. „Haben Sie berücksichtigt, dass es unerheblich sein könnte, ob Sie Mitleid haben?“ „Nein“, sagte ich, „warum?“ Aber da begann das düstere Kind ein großes Geheul, und ein großer, dicker Mann erhob sich von der Elternbank.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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