Schule, Sozialstaat und Hartz IV : KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN
Jetzt sind alle überrascht. Ein UN-Beobachter kommt nach Deutschland und kritisiert die mangelnde Einhaltung der Menschenrechte. Und das in der Bundesrepublik! Haben wir nicht über viele Jahrzehnte einen Sozialstaat aufgebaut, der für Notlagen vorsorgt und jedem seinen Platz in der Gesellschaft garantiert – auch wenn er den Schulabschluss nicht schafft?
Und genau darin besteht das Problem. Wenn deutsche Politiker und Vertreter internationaler Organisationen überhaupt soziale Fragen debattieren, reden sie meist aneinander vorbei. Weil sich zwei grundverschiedene Prinzipien gegenüberstehen: Während sich die globale Diskussion längst auf die Frage nach Chancengleichheit fokussiert, geht es in der deutschen Sozialstaatsdebatte vor allem um die Sicherung des individuellen oder kollektiven Status quo.
Noch immer beruht das Sozialsystem der Bundesrepublik auf Vorstellungen, die mindestens zur Bismarck’schen Sozialversicherung zurückreichen, wenn nicht auf die alteuropäische Vorstellung vom „gerechten Brot“, die jedem seinen Platz in der Gesellschaft zuwies. Diesem Geist entsprang beispielsweise die alte Arbeitslosenhilfe vor der Hartz-Reform. Dass der Staat aus Steuergeldern dem früheren Ingenieur eine höhere Unterstützung zahlt als dem früheren Arbeiter, und das im Zweifel jahrzehntelang – ein solches System der obrigkeitlichen Statusgarantie gab es sonst nirgendwo.
Dennoch führte Hartz IV zu heftigen Protesten, die außerhalb Deutschlands kaum jemand verstand. Gegen die skandalöse Ungerechtigkeit des deutschen Bildungswesens geht indes keiner auf die Straße. Dass Kinder von Akademikern in aller Regel studieren können, Kinder von Arbeitern oder Migranten dagegen nur im Ausnahmefall, das ist gesellschaftlich akzeptiert.
Schlimmer noch: Der Bund ist bei der Föderalismusreform gerade dabei, mit der Bildungskompetenz einen möglichen Schlüssel für mehr Chancengleichheit aus der Hand zu geben – während er das Auszahlen der Sozialhilfe gerade erst selber in die Hand genommen hat. Vielleicht erinnert der Besuch des UN-Ermittlers gerade noch rechtzeitig daran, dass in Deutschland an den Prioritäten etwas nicht stimmt.