Schuh oder Leben

■ Plinio Marcos in deutscher Erstaufführung

Das Regenwasser rieselt an den kahlen Wänden des Raumes herunter und bildet Lachen zwischen Haufen von abgebröckeltem Putz auf dem rohen Boden. Es ist feucht und modrig. Unter dem Fenster, das mit quietschenden Jalousien verhängt ist, liegt ein Berg leerer Plastikflaschen. Zwischen dem Großstadtmüll der Wegwerfgesellschaft, zwischen rostigen Stangen, Wellblechabtrennungen und Belüftungsschächten stehen zwei ausrangierte Bettgestelle mit durchgelegenen Matratzen und schmuddeligen Decken. Straßenlärm und Autohupen dringen durch die zerbochenen Fensterscheiben. Das Bühnenbild fürZwei Verlorene in einer schmutzigen Nacht des brasilianischen Autors Plinio Marcos, das am 2.Mai in Köln Premiere hatte, entwirft präzise und unaufdringlich die Atmosphäre für das Geschehen auf der Probebühne des Schauspiels Köln.

Paco und Tonho, zwei Gelegenheitsarbeiter, hausen gemeinsam in einer heruntergekommenen Absteige in Sao Paulo. Tonho ist in die Stadt gekommen, um seinen Lebensunterhalt mit einer geregelten Arbeit zu verdienen. Doch mit seinen sichtlich abgelatschten Schuhen hat er bei den Bewerbungsgesprächen keine Chance. Er ist davon überzeugt, ja richtiggehend besessen, daß ihm ein paar anständige Schuhe den Einstieg in ein rechtschaffenes Leben ermöglichen würde. Paco hingegen besitzt ein paar nagelneue Schuhe, die ihm allerdings etwas zu groß sind, so daß er sie mit Zeitungspapier ausstopfen muß, wenn er sie anzieht. Da er seine Schuhe aber partout und nicht einmal für einen einzigen Tag Tonho leihen will, beschließt dieser aus lauter Verzweiflung, gemeinsam mit Paco ein Liebespaar zu berauben, um auf diesem Weg an ein Paar ansehnlicher Schuhe zu gelangen. Verhängnisvollerweise reißt ihn dieser Überfall aber nur tiefer ins Unglück. Das Verhältnis zwischen den beiden, das schon zuvor von ständigen Sticheleien und Machtkämpfen bestimmt war, spitzt sich unaufhaltsam zu, bis schließlich Tonho die Nerven verliert und seinen Kumpel umbringt.

Der Dialog des Stückes ist von derbem Vokabular, aber trotzdem eintönig. Die Handlung ist dürftig, und das Geschehen bewegt sich nur schleppend voran. Der Theatertext selbst charakterisiert die beiden Figuren kaum; erst die Inszenierung vermag ihnen Konturen zu geben. Paco wird von Karl Fischer als kindlich-boshafter Schurke mit linkisch -schlendernden Bewegungen und nachlässiger Rede dargestellt. Aufgewachsen in einem Heim, hat er sich mit seinem Schicksal als Ausgesonderter der Großstadtgesellschaft abgefunden und eine Überlebensstrategie entwickelt, die auf klaren Machtverhältnissen beruht und einzig auf das nackte Überleben in dem Großstadtdschungel von Sao Paulo ausgerichtet ist. Zu einem freundschaftlichen Verhältnis mit Tonho ist er schon aufgrund seines allgemeinen Mißtrauens nicht fähig. Vielmehr provoziert er ihn pausenlos - doch das Alleinsein würde er vermutlich ebensowenig ertragen.

Tonho, dargestellt von Paul Faßnacht, der trotz der Behinderung durch einen eingegipsten Arm in den Raufereien mit Paco die Oberhand behält und insgesamt noch zu einem erstaunlich wendigen Spiel in der Lage ist, tritt als skrupulöser, nervös-verunsicherter Typ auf, der verzweifelt an seinen moralischen Wertvorstellungen festzuhalten versucht. Paco verhöhnt ihn als Schwulen, Schlappschwanz und Feigling; und letztlich zermürben ihn die unerbittliche Streitlust seines Mitbewohners und die offensichtliche Ausweglosigkeit seiner Lage so sehr, daß Tonho die Kontrolle über sich verliert.

Die beiden Schauspieler bemühen sich redlich, die Spannungen ihrer ambivalenten Beziehung während des zweistündigen Bühnengeschehens aufrechtzuerhalten. Die zwischen den einzelnen Bildern eingespielte Radiostimme und lärmende Musik bricht leider immer wieder in die mühsam erarbeitete Spannung ein und führt lediglich dazu, daß diese in jedem Bild mehr oder weniger von neuem erspielt werden muß. Vorübergehend wird das Zusammenspiel der beiden etwas zäh und für den Zuschauer strapaziös. Auch für Sao Paulo in Köln scheint zu gelten, daß die Hölle die anderen sind.

Das Theaterstück von Plinio Marcos, dem ungebildeten Autor des gemeinen Volkes, der angeblich vom Straßenverkauf seiner eigenen Bücher lebt, ist ganz und gar unsentimental. Die enormen Probleme des Landes, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, Überbevölkerung der Städte, Wohnungsnot, Korruption und Kriminalität werden nicht eigentlich in dem Stück thematisiert und angeprangert. Sie schwingen aber mit und zeichnen es als soziales Drama in der Tradition des von Augusto Boal ins Leben gerufenen Teatro de Arena aus. Dort wurde es zunächst erfolgreich aufgeführt , bevor die Zensurbehörden es mit der Begründung verboten, daß es eine Anhäufung von Perversitäten, Obszönitäten, Anomalien und Morbidität enthalte, der das brasilianische Publikum nicht gewachsen sei.

Mit der Aufführung von Marcos Zwei Verlorene in einer schmutzigen Nacht setzt das Schauspiel Köln nach der Inszenierung von Gabriel Garcia Marques'Liebestirade gegen einen sitzenden Mann und Nelson Rodrigues' Der Mann mit dem goldenen Gebiß die Reihe der Inszenierungen lateinamerikanischer Stücke fort.

Gisela Klose

Plinio Marcos: „Zwei Verlorene in einer schmutzigen Nacht“, Schauspiel Köln, Regie: Hermann Schmidt-Rahmer, Bild: Herbert Neubecker.

Weitere Aufführungen am 12., 14., 16 und 18.Mai auf der Probebühne Stammstraße 36.