Schriftsteller beschreibt Haiti-Beben: Wenn die Mangobäume tanzen
Der haitianische Journalist und Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert ist seit Anfang Januar in Port-au-Prince zu Besuch. Er schildert, wie er das Erbeben erlebt hat.
Eigentlich wollte sich Louis-Philippe Dalembert ein paar schöne Tage in seiner alten Heimat machen und dann ein Literaturfestival besuchen. Der haitianische Schriftsteller, der sonst in Frankreich lebt, war zu Besuch bei seinem Bruder. Doch dann bebte am Nachmittag des 12. Januar 2010 die Erde.
Seit dem 4. Januar bin ich in Haiti, meinem Geburtsland. Im Prinzip, um an der zweiten Ausgabe des Literaturfestivals Etonnants Voyageurs teilzunehmen, das vom 14. bis zum 17. Januar stattfinden sollte. Ich habe das Festival zum Anlass genommen, etwas früher anzukommen. Es war auch vorgesehen, dass ich erst später, einige Tage nach dem Ende der Veranstaltung, abreise.
Am Nachmittag des Erdbebens bin ich bei meinem Bruder, bei dem ich immer wohne, wenn ich in Haiti bin. An diesem Tag sitze ich im Hof und arbeite. Eine Viertelstunde früher, und mich hätte es erwischt. Normalerweise arbeite ich an einer Ecke des Tisches im Esszimmer neben einem großen Mahagonischrank, in dem die Teller, die Gläser und die Schnapsflaschen aufbewahrt werden. Irgendwann zwischen halb fünf und zwanzig vor fünf stehe ich auf und gehe in den Hof. Drinnen ist es zu heiß. Als ich das erste Dröhnen hörte und der Boden zitterte, dachte ich zuerst, ein Tankwagen sei vorbeigefahren.
Die Heimat: Louis-Philippe Dalembert wurde im Dezember 1962 in Port-au-Prince geboren. 1986 ging er nach Frankreich und lebt heute in Paris, Port-au-Prince und Rom.
Der Werdegang: Auf Haiti arbeitete Dalembert zunächst als Journalist. In Frankreich studierte er Journalismus und Literaturwisseenschaft und wurde mit einer Arbeit über den kubanischen Autor Alejo Carpentier promoviert. In diesem Jahr wird der Schriftsteller in Deutschland als Stipendiant des DAAD erwartet.
Das Werk: In Deutschland erschienen bisher seine Bücher "Die Insel am Ende der Träume", "Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi" und "Jenseits der See", alle im Litradukt-Verlag, Kehl.
Als der Lärm ohrenbetäubend wird, glaube ich an einen Flugzeugabsturz. Das Haus meines Bruders liegt weniger als einen Kilometer vom Flughafen Toussaint Louverture entfernt. Dann sehe ich, wie sich der Boden hebt und die Bäume um mich herum, zwei riesige Mangobäume und ein Avocadobaum, sich in alle Richtungen bewegen. Als die Steine der äußeren Einfriedung einer nach dem anderen beginnen herunterzufallen, begreife ich, was passiert. Später sehe ich, dass der Mahagonischrank mit seiner ganzen Länge auf den Tisch gefallen ist, genau auf die Stelle, an der ich noch vor einer Viertelstunde gearbeitet hatte.
Staubwolken am Himmel
Doch in diesem Moment denke ich an die gelähmte Schwiegermutter meines Bruders, die im Haus in ihrem Bett liegt. Ich springe über den kleinen Zaun des Hofes. Da ich nicht Sotomayor, der kubanische Weltmeister im Hochsprung, bin, lande ich mit blutigem Schienbein und einer Schramme an der Hand auf dem Boden. Ich stehe auf und rufe nach der Putzfrau und meinem Bruder, der in diesem Augenblick aus seinem Schlafzimmer kam. Wir rennen beide ins Zimmer seiner Schwiegermutter. Trotz der umgefallenen Kommode, des zerbrochenen Spiegels, der heruntergefallenen Bilder und des Wasserstrahls aus dem Fußboden begreift die alte Frau nicht, was geschieht.
All dies sollten wir im Nachhinein feststellen. Sie will nicht barfuß aus dem Haus und verlangt ihre Sandalen. Voll Panik fassen wir sie unter den Armen und tragen sie ohne viel Federlesens hinaus. Um uns herum fliegen die Gegenstände durch die Luft. Nachdem wir alle vier im Hof sind, spüren wir zwei weitere, weniger heftige Stöße. Die Putzfrau steht unter Schock und bricht in Tränen aus. Ich nehme sie in die Arme. Mein Bruder versucht, seiner Schwiegermutter erklären, was sie gerade erlebt. Alle Nachbarn sind draußen. Von weitem, von den Straßen und aus den umliegenden Höfen hört man Rufe: "Jesus! Jesus!", während der Himmel sich mit einer Staubwolke bedeckt.
Dank der einzigen Radiostation, die zu dem Thema sendet, sollten wir später erfahren, dass der erste Erdstoß, der zwischen 45 Sekunden und einer Minute gedauert hat, eine Stärke von 7,3 und die anderen eine Stärke von 5,9 und 5,5 hatten.
Mein Bruder versucht, seine Frau und seine zwei Kinder anzurufen, die in der Schule sind. Glücklicherweise wurden die Telefonverbindungen, die nach einigen Minuten ausgefallen sind, sofort wiederhergestellt. Mein Neffe und meine Nichte sind an einem Ende der Stadt, ihre Mutter am anderen. Die Kinder kommen als Erste, meine Nichte weint, dann meine Schwägerin. Jeder beginnt zu erzählen, wie er erlebt hat, was gerade geschehen ist. Was er auf dem Weg hierher auf den Straßen gesehen hat. Wir beginnen die Ausmaße des Phänomens zu ermessen. Nach einigen Minuten gehen wir ins Haus, um festzustellen, wie hoch der Schaden ist. Alles ist voll Wasser, die Möbel sind hierher und dorthin verrückt, die Bilder liegen auf dem Boden, das Geschirr ist in Scherben, die Betten stehen quer vor der Tür. Die Mauern um den Häuserblock herum sind zusammengefallen.
Nun beginnen die verschiedenen Gerüchte die Runde zu machen. Die meisten öffentlichen Gebäude sollen eingestürzt sein, vor allem der Präsidentenpalast, den man hier den Nationalpalast nennt. Dieser und jener sollen tot sein. Der und der soll eine Nachricht aus den Trümmern geschickt haben, unter denen er liegt. Zwei unserer Nachbarn werden aus ihren Büros nie mehr heimkommen. Drei andere sind nach einem dreistündigen Fußweg durch die zerstörten Straßen der Stadt mit verschiedenen Verletzungen zurückgekehrt. Barack Obama soll eine Ansprache im Fernsehen gehalten haben, berichten in den USA lebende Haitianer. Auch Nicolas Sarkozy soll eine Rede gehalten haben. Auf einen Auftritt des haitianischen Präsidenten müssen wir bis zum Nachmittag des nächsten Tages warten.
Zunächst müssen wir uns in der Nachbarschaft auf die Nacht vorbereiten. Der eine bringt den Reis und die Bohnen, der andere das Fleisch. Wieder ein anderer ein Feldbett und noch ein anderer eine Matte. Wir wissen, dass wir die Nacht und auch die folgenden Nächte unter freiem Himmel verbringen werden. So oder so, die Nächte sind schön in Port-au-Prince. Versammelt wie zu einer Totenwache beruhigen wir uns gegenseitig, lachen und weinen gleichzeitig. Wir versuchen zu schlafen, aber es gelingt uns nicht recht, wir achten auf jede kleinste Erschütterung. Die Nacht wird lang, denn tatsächlich bebt die Erde immer weiter.
Am nächsten Tag gehen wir frühmorgens um sechs mit meinem Bruder in die Stadt, um uns ein Bild von der Lage zu machen. Was wir sehen, übertrifft die Bilder, die wir am Vorabend im Internet gesehen haben. Die ganze Bevölkerung ist draußen und läuft wie ziellos durcheinander. Einige ziehen einen Koffer hinter sich her. Andere transportieren Verletzte auf dem Rücken, in einem Schubkarren oder auf einer improvisierten Trage. Die Gesichter sind verstört. Leichen liegen zu Hunderten in den Straßen.
Mit Schaufeln bewaffnet
Die meisten öffentlichen Gebäude haben dem Erdbeben tatsächlich nicht standgehalten. Die kleine Managementschule meines Bruders ist nur noch ein Trümmerhaufen. Der Wächter steht oben und räumt in einer lächerlichen Rettungsaktion Akten-Schutt weg. Am Vortag hatte er zusammen mit anderen mit bloßen Händen an die zehn Leichen daraus geborgen. Später erzählt er uns, dass sein eigener Sohn nicht überlebt hat. Am Tag danach werden wir andere Leute sehen, die, bewaffnet mit einer einfachen Schaufel, auf eigene Initiative versuchen, die Straßen zu reinigen. Das geschieht oft bei Katastrophen in Haiti: Die kleinen Leute reagieren immer als Erste. Beim Gedanken daran kommt man sich unbedeutend vor. Trotz des großzügigen Angebots der französischen Botschaft, mich nach Paris zurückzufliegen, habe ich mich daher entschlossen, noch ein wenig zu bleiben.
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