„Schon das Wort 'Aggression‘ war verboten“

■ Interview mit dem DDR-Psychologen Wolfram Zimmermann über Psychologie und Psychotherapie vor und nach der Wende / Psychoanalytiker standen immer zwischen Psychologie und Politik - nun kommt der Konsumterror auf sie zu

Der Psychologe Wolfram Zimmermann ist der einzige Psychologiedozent in der DDR, der gleichzeitig auch in der Praxis tätig ist. Er leitet seit 14 Jahren eine Fachabteilung für klinische Psychologie und Psychotherapie am Kreiskrankenhaus Bernau und lehrt seit 1987 als externer Dozent an der Universität Leipzig. Die taz sprach mit Wolfram Zimmermann über die ebenso schwierige Vergangenheit wie auch die Zukunft seines Berufs.

taz: Wo lag bisher im Bereich der Psychotherapie in der DDR der größte Mangel?

Zimmermann: Ich glaube, daß ein großer Nachholbedarf auf dem Gebiet der Psychoanalyse besteht. Das ist in der DDR ein ganz desolates Gebiet, während dagegen im Bereich Verhaltenstherapie, aber auch Kinder- und Jugendpsychiatrie sehr viele gute Dinge gelaufen sind und vieles an Inhalten von der BRD übernommen werden kann.

Im Bereich der psychisch-dynamisch orientierten Psychologie dagegen wurde zwar im Haus der Gesundheit eine dynamisch orientierte Gruppentherapie aufgebaut, wo das Gruppengeschehen dazu dienen sollte, dem Patienten seine blinden Flecken bewußt zu machen und neue Strategien der Problembewältigung zu entwickeln - aber das ist eben noch keine Psychoanalyse! Psychoanalytiker sind immer als Gefährder der Gesellschaft angesehen worden. Als die Demonstrationen in der DDR begannen, waren es Psychologen aus Halle, die ganz deutlich gesagt haben, daß jetzt die einzige Chance gegeben ist, die totale Verdrängung in der DDR endlich aufzuarbeiten - eine Verdrängung, die nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch von jedem Einzelnen immer wieder reproduziert wurde.

Wir wurden immer stark behindert, gerade weil wir an der Nahtstelle zwischen Psychologie und Politik standen. Viele Patienten kamen zu mir, die damals sogenannte Ausreiseanträge gestellt hatten und von der Staatssicherheit natürlich observiert wurden. Sie begaben sich damit auf gefährliches Glatteis - es gb Fälle, wo mir der Staatsanwalt per Weisung an den ärztlichen Direktor untersagt hat, mit dem Patienten weiterzuarbeiten, wenn ich an die Grenze zur Politik gestoßen war.

Mir waren also die Hände gebunden. Denn ich hätte eigentlich die Dinge ansprechen müssen, die bei dem Einzelnen zum Bruch mit dem Staat geführt haben und außerdem mittels Publikationen in die Gesellschaft hinausgehen müssen - was natürlich ebenfalls verboten war.

Wie ging es Ihnen selbst dabei, wenn Ihre Arbeit so beschnitten wurde?

Besonders schlimm war die Arbeit mit den Jugendlichen. Eine so pervertierte Pädagogik wie in der DDR, eine solche Gewaltherrschaft über die Schulen und Lehrer bis hin in die einzelnen Köpfe hat mir die größten Probleme gemacht. Es war die völlige Unfähigkeit der Lehrer, mit den Kindern in freier Kommunikation umzugehen, was so weit ging, daß den Lehrern verboten wurde, das Wort 'Aggression‘ zu benutzen. Unsere Kinder durften nicht aggressiv sein. Und so war man von vornherein zum Mißerfolg verurteilt und hat immer nur den gleichen Schleim bearbeitet.

Was war denn die offizielle Definition von „psychisch krank“?

Margot Honecker hat den Begriff der Verhaltensstörung abschaffen lassen, und es wurde in allen Publikationen der Begriff „verhaltensgeschädigt“ eingeführt. Dies zielte darauf ab, daß Verhaltensschädigungen mehr oder weniger dispositionelle, biologische Komponenten sind. Z.B. hatte man sich auf hirnorganisch geschädigte Kinder eingeschworen, die geschädigt seien im Sinne von behindert und somit der Medizin zugeschoben wurden. Der Psychologe hat sie dann nur noch im Sinne von Konzentrationsübungen behandelt.

Somit wurden die Psychologen stark von der eigentlichen Therapie abgehalten und nur noch mit Diagnostik beauftragt. Psychisch gestörte Kinder gab es in der DDR offiziell nicht

-und damit war man das moralische Problem los.

Hat sich in der kurzen Zeit nach dem 9. November schon etwas verändert?

Für mich ist es eine völlig neue Erfahrung, daß jetzt Eltern und Lehrer selber inhaltliche Fragen stellen und selbst Probleme ansprechen und darüber reden wollen. Es besteht offensichtlich ein großer Nachholbedarf. Außerdem werden jetzt elementare Formen der Weiterbildung Elterntraining, Lehrertraining - angeboten, die früher verpönt waren.

Ein großes Problem andererseits sind die auftretenden ökonomischen Zwänge. Mir sind zugesagte Planstellen gestrichen worden, weil Sozialwesen und Gesundheitswesen jetzt plötzlich getrennt werden sollen. Durch den Druck im Gesundheitswesen insgesamt passiert es, daß ärztliche Direktoren an einen herantreten und fragen, ob man sich nicht selbständig machen will. Man will uns also aus den Institutionen „herausdrängeln“. Ich habe jetzt das erste Mal in meinem Leben Existenzängste.

Angst habe ich auch, was die weitere Perspektive unserer Psychologie betrifft. Die DDR-Fachgesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und medizinische Psychologie, in deren Vorstand ich bin, hatte viele internationale Kontakte, aber - im Unterschied zur BRD haben wir die inhaltliche Aktivität gebündelt. Es war zwar manches stalinistisch organisiert, aber es hatte den großen Vorteil, daß eine unübersehbare Zersplitterung vermieden wurde. Ich habe die Befürchtung, daß dies jetzt anders wird und viele gute Ideen, die sich gerade unter dem Druck des Stalinismus und der Repression entwickelt haben, unter den Schlitten von deutsch-deutschen Großprojekten kommen.

Wie wirkt sich denn aus Ihrer Sicht als Psychologe die „Wende“ auf die DDR-BürgerInnen aus?

Die Leute erleben vor allem, daß sie machtlos sind und nichts mehr haben. Die Folge: Die positiven Dinge, die sie in fachlicher, inhaltlicher und menschlicher Hinsicht haben, werden auch noch aufgegeben. Und das ist nicht nur die Schuld der BRD, sondern vor allem die eigene Kloake in der DDR. Die Leute wollen den absoluten Konsumterror, die von der SED so lange unter der Käseglocke gehaltenen Bedürfnisse explodieren völlig unkontrolliert. Ähnlich wie nach 1945 geben die Leute sämtliche Werte und Dimensionen auf - obwohl das niemand von ihnen gefordert hat.

Man muß das ja mal sehen, der staatsmonopolistische Sozialismus war so pervertiert, daß die DDR eigentlich gar keine Identität hatte. Zu Deutschland gibt es das Eigenschaftswort „deutsch“, in der DDR gab es jedoch nichts, was man hätte DDR-isch nennen können. Aufgrund dieser fehlenden Identität entstand auch dieser Ausländerhaß, der lange unterdrückt wurde und jetzt förmlich herausschießt.

Was wünschen Sie sich als Psychologe für die Zukunft der DDR?

Ich wünsche mir, daß jeder Einzelne seine Existenz etablieren und sich selbst verwirklichen kann. Daß vor allem die interdisziplinäre Kommunikation weiter gestärkt wird.

Im Hinblick auf die Psychologie wünsche ich mir zwar langfristig eine Gesamtdeutsche Gesellschaft der Psychologie - doch zunächst gilt es, die Fachfragen in Ruhe zu diskutieren. Es muß eine vernünftige und langsame Integration stattfinden, so daß die DDR-Strukturen dieses Fachgebietes mit in diese Institutionen hineinwachsen.

Interview: Martina Habersetzer