■ Schöner Leben: Tönerne Worte
Was im Mittelalter die Gosse war, ist heutzutage der Altglas-Container. Er gibt nicht nur Auskunft über die Bewohner der Umgebung: In Akademiker-Stadtteilen liegen weit mehr Prosecco-Flaschen im Container, als in Arbeiter-Vierteln, die zu Korn und Bier in Einwegflaschen tendieren. Nein, auch nicht mehr benötigte Dinge legen die Bewohner am Container ab, wie sie früher ihre Reste für die Armen in die Gosse schmissen.
Sie selbst können mit ihnen nichts mehr anfangen, finden die Gebrauchsgegenstände aber zu schade, um sie gleich selbst zu entsorgen. Hinfort mit dem vierteiligen Keramikgeschirr (solche gab's früher in den DDR-Kulturläden zu kaufen – sozialistische Brüder und Schwestern aus Bulgarien hatten sie getöpfert) – aber vielleicht kann ein Ärmerer noch von ihm essen? Die Pinwand hat ihre Zeit ebenfalls überdauert, ein aufgeklebter und mittlerweile vergilbter Che Guevara zeugt von besseren Tagen. Doch der Besitzer scheint sich die Korkwand nur schwer vom Herzen gerissen zu haben, denn auch sie lehnt am Altglas-Container, in der Hoffnung, daß ein Mensch revolutionäre Nachrichten an ihr befestigen möge.
Jüngst lag auch ein Lexikon der geflügelten Worte und gedroschenen Phrasen auf dem Container. Äußerlich war es in gutem Zustand, tadellos gebunden, wenn auch sichtlich gebraucht. Der Besitzer hatte die auf tönernen Füßen abgestandenen Worthülsen wohl genutzt und seinen Schaden gehabt. Wen mag der Einfallslose mit den Floskeln traktiert haben? Einmal ertappt ist hundertmal schuldig. Seite um Seite jagten sich die Phanatsielosigkeiten deutscher Volksweisheiten. O Graus, welch schauerliches Leben hat der Unbekannte mit dem Buch geführt. Freunde werden ihn gemieden, Leser seiner Briefe den Kontakt abgebrochen, Familienangehörige auf jeder Feier sich schauernd abgewandt haben, wenn er seinen konservierten Wortschatz aus den Buchdeckeln zog. Zu jeder Gelegenheit wird dem Menschen ein Spruch der Dümmlichkeit eingefallen sein. Im Leid halt aus, im Genuß halt ein, mag sich die einsame Kreatur gedacht haben, keiner ist alle Stunden weise.
Auch späte Einsicht ist ein Schritt zur Besserung, schoß es dem Phrasendrescher eines Tages aus dem Buch hervor. Doch was ihm jahrelang flüssig über die Lippen kam und aus der Verlegenheit des Nichtssagens nur scheinbar raushalf, konnte er nicht einfach in den Papiercontainer werfen. Vielleicht kann ein Leidgenosse die Sprüche neu beleben? So legte er das Buch auf den Altglas-Container. Ein Übel ruft das andere nach – am nächsten Tag war das Buch verschwunden. Ulrike Fokken
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