Schnittstelle: „ran“ an die Schenkel
■ Körperkult im Forum und auf dem Videofest
Den bislang kräftigsten Applaus gab es in der Forums-Vorstellung für Iara Lees „Synthetic Pleasures“. Begeistert war das Publikum von Animation zu Animation der Phänomenologie von Artificial Intelligence und Virtual Reality gefolgt; hatte sich vor den Gesichtsoperationen der französischen Gender-Performerin Orlan geekelt; hatte einem Lou Perry Barlow beim Märchen zugehört, das die Netzgemeinde der Zukunft den Lahmen und Blinden helfen kann; und hatte über Scott Fraziers Sophistereien gestaunt, daß man weder Gen-, Bio- noch Informationstechnologie fürchten solle — schließlich sei bei der Evolution auch einmal der Mensch herausgekommen. Warum also nicht noch einen Versuch wagen?
Tatsächlich hat der Erfolg von „Synthetic Pleasures“ mehr mit dem Spieltrieb zu tun. Lees Film besteht aus knapp 100 digitalen Clips von „Rhythm Golf“ bis „Orgasmitron“, dazu wummert Techno und Ethno-Disco. Das global village wird durch elektronische Panflöten verbunden. Auch die Interview-Partner sind stets mit ihrer Zukunft als ravende, mit Prozac, Daten oder Images zugedröhnte Gemeinde voll zufrieden — Steve Roberts lebt seit geraumer Zeit bereits ohne festen Wohnsitz lediglich auf seinem Fahrrad, das allerdings rundum mit High-Tech ausgestattet ist.
Überhaupt zeigt Lee nur Freaks und Spezialisten, als ließe sich Fortschritt auf Woodstock- Basis legitimieren. Am Ende ist man doch ein bißchen skeptisch, ob hier nicht bloß ein Lehrfilm zur Erwachsenenbildung gedreht wurde, der die technische Entwicklung mit Bedürfnissen verwechselt: Den Frauen geht es dabei um körperliche und sexuelle Erfüllung, die Männer scheinen nur einen virtuellen Kegelverein zu suchen.
Das Videofest stellt zumindest die konkreteren Fragen. In Ulrike Filgers Essay „Auf der Suche nach der Unsterblichkeit“ wird man durch ein Labyrinth aus Körper-Phantasien geschleust, die vom Bodybuilding über Katastrophen-Theorien von Norbert Bolz bis zum Brutkasten für geklonte Babies reichen. Immer wieder ist es die Angst, keine Erfahrungen mit in den Tod nehmen zu können, die den Menschen alles Irdische abspeichern läßt.
Der Cyberspace als Fortsetzung der Bibel? Man weiß nicht recht, wie man den Datenraum interpretieren soll. Mal ist er Metapher für den Weltgeist, mal ein Lebewesen aus reiner Information, das nicht sterben kann — ein unendlicher Text, an dessen Anfang seit der Genesis das Wort steht. Als Alternative zum Computer wird die Mutterbrust angeboten. Nur ein Baby, das bewußtlos saugt, hat eine Erfahrung von Unsterblichkeit.
Im Beitrag „Aus Zeit“ von Gerd Haag und Christoph Biermann beginnt das Wissen um Sterblichkeit mit Beschädigung. Die beiden haben aus Sportarchiven allerlei Material zusammengeschnitten, das die Grenzen des Körpers schmerzhaft nahebringt. In Zeitlupe rammt sich der Schädel eines Rennfahrers beim Überschlag in den Asphalt, auch Lienens offener Oberschenkel kommt zum Einsatz. Wieder taucht Norbert Bolz auf, nur diesmal mit der interessanteren These: Er sieht den sportlich agierenden Körper als „ökologische Nische der Echtheit“, während er sonst in der Dienstleistung am Computer verschwindet. Der Sport ersetzt die Erfahrung des eigenen Lebens.
Doch schon Günther Gebauer widerspricht als Soziologe diesem Wunsch. Auch der Sportler löst sich in Medien auf. Kein Fußballer, der seit der „ran“-Berichterstattung auf Sat 1 noch er selbst wäre. Zurück am Bildschirm entwickelt der Zuschauer bloß noch Empathie. Die beste Szene allerdings hat der Boxer Norbert Grupe: In einem ZDF- Interview von 1969 antwortet er auf keine Interview-Frage und dämmert grinsend vor sich hin. Harald Fricke
Videofest im Podewil, Nightflight 7, heute 22.30 Uhr
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