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Debatte„Schluss mit der Präventivhaft!“

Herta Däubler-Gmelins Expertise istgefragt: als Vorsitzende der BerlinerKommission „Vergesellschaftung großerWohnungsunternehmen“ ebenso wie zurKrimina­lisierung der Letzten Generation. Die Ex-Bundesjustizministerin (SPD)in einem Exklusiv-Beitrag für Kontext.

Blockade via Demo: die Letzte Generation am 31. Mai in Stuttgart. Foto: Jens Volle

Von Herta Däubler-GmelinDie Aktionen der Letzten Generation spalten die Öffentlichkeit. Viele von uns unterstützen ihre Ziele mit gutem Grund: Wir wissen längst, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die Klimakrise nicht vollends zur Klimakatastrophe zu machen. Wir alle sehen auch, dass die Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten die notwendigen Veränderungen zu zögerlich vorantreiben können, weil der Einfluss der Lobby zu stark und die Trägheit vieler Bürgerinnen und Bürger zu groß ist. Viele lassen sich auch allzu gern von populistischen Beschwichtigern einlullen, obwohl wir jeden Tag mehr erleben, dass jedes weitere Verschieben der längst bekannten überfälligen Entscheidungen doppelt kostet und sich rächen wird.

Also: Alle müssen mehr tun, wir müssen unsere gewohnte Lebensweise verändern. Und zwar bald. Darauf muss immer wieder aufmerksam gemacht werden. Durch bessere politische Kommunikation – das ist eine wichtige Aufgabe nicht nur für Politiker:innen und Parteien, sondern auch für Journalisten, die sich heute viel zu viel darauf begrenzen, genüsslich den Streit und die Konflikte in der Regierung zu beschreiben.

Demonstrationen und Aktionen der Zivilgesellschaft gehören dazu. Die gibt es glücklicherweise, und sie sind, ebenso wie Kritik, nicht nur erlaubt, sondern geradezu Bürgerpflicht. Sie können Öffentlichkeit und Druck erzeugen und auf diese Weise mithelfen, die längst als erforderlich erkannten Änderungen gerade noch rechtzeitig genug umzusetzen.

Mehr Kreativität und Hirn

Das muss gelingen. Die Nachdenklichen unter den jungen Leuten wissen, was alle spüren: Heute wird über ihre Zukunft entschieden. Meine Enkelinnen und Enkel und weitere Generationen müssen die Chance bekommen, auch künftig selbstbestimmt in einer Gemeinschaft mit Freiheit, Schutz und Solidarität leben zu können. Das fordern sie in vielen Demonstrationen und Aktionen, von denen die meisten beeindruckend kreativ sind und bemerkenswert wenig über die Stränge schlagen.

Nicht so manche Aktivitäten der LetztenGeneration: Deren Aktionen des zivilen Ungehorsams verletzen häufig Vorschriften, auch Gesetze. Das ist ein Problem, ohne Zweifel; in jedem Einzelfall müssen Ziel und Mittel in rechtsstaatlicher Balance stehen. Ihre Klebeaktionen beispielsweise sind ein Grenzfall. Sie nerven nicht nur die für die Trägheit politisch Verantwortlichen, sondern auch viele „normale“ Bürger, die sich ungern behelligen lassen. Wer, wie ich, im E-Auto in Berlin (nicht in Tübingen, da hat sich OB Palmer vernünftigerweise mit den Aktivisten auseinandergesetzt) mehr als eine Stunde in einem Kleber-Stau stand, hat für den Zorn vieler Aufgestauter durchaus Verständnis. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Empörten, die bei solchen Gelegenheiten am liebsten in die Reporter-Mikrofone beißen würden, sich in den heute normalen verkehrsbedingten Staus vergleichbar echauffieren.

Ich finde auch die Farb- oder Kartoffelbreiattacken auf berühmte Museumsbilder und manches andere schlicht blöd und wünsche mir mehr Kreativität und Hirn, um durch bessere Demonstrationsformen die notwendige Klimapolitik im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten und nicht durch die Aufregung über zweifelhafte Methoden abzulenken. Die Forderung der Letzten Generation nach „Bürgerräten“ halte ich für politisch falsch und für eher naiv. Zwar sehe ich, dass damit die Zuständigkeit der verfassungsgemäß gewählten Parlamente keineswegs verdrängt werden soll. Ich sehe jedoch nicht, warum und wie Bürgerräte eine weniger träge oder weniger durch Lobbyisten beeinflusste Klimapolitik durchsetzen könnten. Vorgeschaltete Beratungen von Bürgerräten würden die Willensbildung nur weiter verlängern. Tempo 30 in Ortschaften und Tempo 100 im Übrigen wäre konsequenter und wirksamer.

Kritik ist also nicht nur an der Trägheit der Regierenden und unserer Gesellschaft geboten; ich halte auch die Auseinandersetzung über manche Aktivitäten der Letzten Generation für völlig berechtigt!

Söder sollte besser Bäume umarmen

Aber ist es deshalb vertretbar oder gar richtig, diese Gruppe als „Terroristen“, „Ökoterroristen“ oder Kriminelle abzustempeln, wie das von besonders prägnanten Lautsprechern der politischen Rechten mittlerweile geschieht? Und ist es zulässig, Mitglieder dieser Gruppe durch Polizei und Justiz entsprechend strafrechtlich zu verfolgen? Klare Antwort: nein, ganz sicher nicht.

Man darf Mitglieder der Letzten Generation nicht als schwerstkriminelle Wiederholungstäter präventiv einsperren, also Menschen, die noch nicht mal begonnen haben, eine Straftat zu begehen. Diese einseitige bayerische Übung widerspricht unseren verfassungsrechtlichen Grundsätzen diametral. Das sollten sich auch diejenigen Mitglieder der Stuttgarter Landesregierung hinter die Ohren schreiben, die so etwas gut finden. Man darf eben die Anwendung rechtstaatlicher Grundsätze nicht nur für Russland oder andere autoritäre Staaten einfordern. Es ist auch absurd und unverhältnismäßig, Wohnungen von Mitgliedern dieser Gruppe morgens um sechs Uhr oder noch früher durch SEKs oder MEKs in voller Montur durchsuchen zu lassen als befürchte man, Waffenlager oder Bombenmaterial ausheben zu müssen.

Die Verantwortlichen der bayerischen Justiz sollten so etwas nicht in Gang setzen, auch wenn das politisch angeordnet worden sein sollte. Hier drängt sich der Verdacht kurz- oder fehlsichtigen oder gar einäugigen Handelns geradezu auf. Die Bundesministerin des Innern sollte ihr Rechtsverständnis nicht Missverständnissen aussetzen, indem sie solche maßlosen Aktionen verteidigt. Ministerpräsident Söder schließlich täte gut daran, sich wieder einmal in einen Wald zu begeben und Bäume zu umarmen!

Vor wenigen Tagen hat sich das Bundeskriminalamt erfreulich sachlich und unaufgeregt geäußert und aufgrund der Fakten die Behauptung problematischer „Radikalisierung“ zurückgewiesen. Ich halte die Tendenz der Verteufelung und Verfolgung der Aktivisten der Letzten Generation für politisch falsch, ja verhängnisvoll, weil sie gerade in unserer aufgeregten und durch Unsicherheit und Sorge geprägten Umbruchzeit die Verwirrung der Gemüter gerade bei jungen Leuten verstärkt.

Verteufelung und Verfolgungist politisch falsch

Es muss doch darum gehen, die Klimakrise schneller und effizienter zu bekämpfen, also die bestehenden Widerstände und Trägheiten zu überwinden. Gerade die politisch Verantwortlichen und die Justiz dürfen nicht dabei mitwirken, immer mehr junge Leute darin zu bestärken, „der Staat“ verstehe ihre Sorgen nicht und bekämpfe gerade diejenigen, die für ihre Zukunft eintreten.

Herta Däubler-Gmelin. Foto: Joachim E. Röttgers

Es ist gut, dass wir davon ausgehen können, dass spätestens das Bundesverfassungsgericht die unzulässigen Maßnahmen aufheben und die Verwirrung in den Köpfen der dafür Verantwortlichen wieder zurechtrücken wird: Terroristische oder kriminelle Vereinigung – diese Begriffe und die entsprechenden Straftatbestände sind bekanntlich zur Bekämpfung der Morde, Anschläge und Bomben der RAF ins Strafgesetzbuch gekommen. Sie mit Demonstrationsformen, auch mit solchen des zivilen Ungehorsams zu vermischen oder gar gleichzusetzen, ist unzulässig, seien diese noch so nervig. Das hat Karlsruhe längst geklärt.

Wo, um konkret bei den Straßenklebern zu bleiben, Verkehrsvorschriften rechtswidrig und schuldhaft verletzt werden, reichen die in diesem Bereich geltenden Sanktionen völlig aus. Das muss die Richtschnur sein, die für alle Verantwortlichen gilt.

Deshalb meine Forderung an alle Verantwortlichen: Macht Schluss mit Verleumdungen, Beschimpfungen und SEK-/MEK-Aktionen. Macht endlich Schluss mit der unverantwortlichen Präventivhaft. Alle, gerade auch die Verantwortlichen aller staatlichen Ebenen und der Justiz sollten sich darauf konzentrieren, die Klimakrise nicht zur Klimakatastrophe werden zu lassen. Mit Vernunft, Überzeugungskraft und Augenmaß. So lassen sich auch die jungen Leute gewinnen und deren Sorgen verringern, sie könnten wirklich die letzte Generation sein.

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