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Archiv-Artikel

„Schleichende Entmachtung“

Bundesministerin Renate Künast warnt vor Fehlern bei der neuen EU-Richtlinie für Dienstleister. Die beabsichtigte Liberalisierung könnte den Schutz der Verbraucher vor Giften und Betrug aushebeln

INTERVIEW REINER METZGER

taz: Frau Künast, ist die neue Dienstleistungsrichtlinie so schlimm, wie Attac und manch Gewerkschafter befürchten?

Renate Künast: Wenn man hier Fehler macht, werden ganze Bereiche unserer Gesetzgebung ad absurdum geführt. Das ist das Besondere an der Richtlinie. Es geht nicht nur um die Freiheit, sich als Dienstleister in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen oder grenzüberschreitend zu agieren. Mittelbar betroffen sind auch viele Politikbereiche, die bisher national geregelt sind. Die sind dann praktisch abgeschafft.

Welche meinen Sie genau?

Das geht los in unserem Ressort beim Pflanzenschutz. Da muss zum Beispiel bei grenzüberschreitenden Arbeiten geklärt werden, dass das Recht des Mitgliedstaates gilt, in dem die Dienstleistung erbracht wird. Sonst würden rundum, vor allem in Grenznähe, plötzlich nicht mehr die hiesigen Regeln gelten, weil da jemand aus einem anderen EU-Land auf dem Trecker sitzt: Welche Spritzmittel sind zugelassen, wie sind die auszubringen zum Beispiel. Ähnliches gilt für die großen Bereiche Gesundheits- und Verbraucherschutz.

Aber es gelten doch weiterhin die hiesigen Gesetze?

Das genau ist unklar im vorliegenden Entwurf der Richtlinie. Es sind grundsätzlich nur Dienstleistungen ausgenommen, die eh unter ein generelles Verbot fallen – etwa weil sie die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die Gesundheit gefährden.

Was fordern Sie konkret?

Es braucht eine Klarstellung, welche Bereiche ausgenommen werden, zum Beispiel der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Vieles, was bei uns verboten ist, käme sonst durch die Hintertür wieder rein. Oder nehmen Sie die Lebensmittelüberwachung, Tierschutz und Tierversuche sowie die das Verbot bestimmter krebserregender Dämmmaterialien im Baurecht. Bisher gilt in der Richtlinie strikt das Herkunftslandrecht, also die Regeln des Landes, aus dem der Arbeiter kommt, der die Dienstleistung erbringt. Ähnlich die Gesetze zum unlauteren Wettbewerb: Wie wollen Sie sich als Erika Mustermann denn informieren über die Regeln von Lockvogelangeboten – oder gar Schadenersatzansprüche in anderen Ländern durchsetzen? Firmen würden ja auch in das Land wechseln, wo sie für ihre Zwecke die optimalen Vorschriften finden.

Muss die Richtlinie weg?

Es geht um eine verbrauchergerechte Regelung. Im Grunde ist eine größere Freiheit im Binnenmarkt ein guter Ansatz. Es gibt schon tatsächlich ein großes Potenzial der Entbürokratisierung bei der Niederlassung und Qualifizierung. Man muss aber genau hingucken.

Wie soll es denn einen Kompromiss geben zwischen den gegensätzlichen Prinzipien Herkunftsland und Anwendungsland?

Da müssen wir erst mal warten, bis sich der Nebel der Worte gelegt hat. Es kann jedenfalls nicht sein, dass nationale Politik und der Verbraucherschutz einfach ausgehebelt werden. Das wäre eine schleichende Entmachtung nationaler Strukturen. Am Ende würde faktisch das jeweils niedrigste nationale Recht der Europäischen Union gelten.

Bisher waren der Kanzler und Wolfgang Clement als federführender Minister trotzdem eher Verfechter der Richtlinie. Die deutsche Industrie verspricht sich mehr und leichtere Geschäfte davon.

Ich blicke da etwas mehr ganzheitlich drauf. Der Wirtschaftsminister fühlte sich doch kürzlich auch bemüßigt, mit patriotischen Worten mehr Engagement von der Industrie zu fordern. Wir als Regierung müssen andere Fragen beantworten als die Industrie. Deren Sorge war es bisher nicht, über die Grenzwerte der Pflanzenschutzmittel nachzudenken.

Gerhard Schröder sprach vergangene Woche schon von bestimmten Ausnahmen für Pflegeberufe – gibt es also noch Chancen, die Bedenken anderer Ressorts zu berücksichtigen?

Die Richtlinie befindet sich mitten in der Abstimmung, es gibt noch keine einheitliche Position der Bundesregierung. Auch auf EU-Ebene laufen die Verhandlungen, die nächsten Runden Anfang März und im Juni in Brüssel.

Bis dahin ist eine einheitliche Position der Bundesregierung gar nicht mehr zu schaffen, oder?

Vielleicht noch nicht bis zum März, aber unsere Fragen liegen auf dem Tisch. In Brüssel, auch bei der EU-Kommission, ist inzwischen klar, dass Druck im Kessel ist.