Schlappe Prügelknaben waren Stimmungskanonen

■ Profi-Boxen in der Hasenheide: Mike Wissenbach (Berlin) alter und neuer Deutscher Meister im Supermittelgewicht / 800 Zuschauer außer Rand und Band / Heistermann durfte Boxen, obwohl das Ergebnis des Aids-Zwangstestes noch nicht vorlag

Nichts für schwache Nerven: Als Lokalmatador Mike Wissenbach, der Deutsche Meister im Supermittelgewicht, am freitäglichen Profi-Boxabend in den Ring stieg, um seinen Titel gegen Josef Kossmann (Neustadt) zu verteidigen, war die Atmosphäre im Festsaal an der Hasenheide auf dem Siedepunkt. Ja, sie drohte überzukochen: Ein Spotlight wurde eingeschaltet, aus den Lautsprechern dröhnten Präsentations -Fanfaren, Frauen kreischten, Männer schrien Anweisungen, Rolex-Uhren und andere Klunker glänzten, was das Zeug hielt

-800 Zuschauer waren komplett aus dem Häuschen.

Doch das, was da so großartig angekündigt worden war, der Hauptkampf des Abends, erwies sich schnell als Mogelpackung. Keine drei Runden dauerte es, da hatte der Mike den Jupp verkloppt, und zwar tüchtig. Nach schweren Treffern am Kopf und in der Lebergegend hatte Kossmanns Schwiegervater, der gleichzeitig Trainer des versohlten Prügelknaben ist, Mitleid mit dem Ehemann seiner Tochter - er schmiß das Handtuch, das Zeichen der Aufgabe. Für Wissenbach war die Sache klar: „In meiner Vorbereitung habe ich viel mit Hanteln trainiert, um meine Schlagkraft zu erhöhen. Und als der Kossmann zum erstenmal angezählt wurde, war klar, daß das Ding hier schnell über die Bühne gehen würde.“ Einfacher läßt es sich wohl nicht ausdrücken.

Dennoch dürfte Wissenbach für Graciano Rocchigiani, der in derselben Gewichtsklasse den Weltmeistertitel hält, kein ernstzunehmender Konkurrent werden. Der Weltmeister, das offenbarte sich deutlich, hat eine weit bessere Technik, mehr Kraft und ist schneller auf den Beinen.

Auch beim zweiten Hauptkampf, im Schwergewicht, kamen lediglich Berliner Patrioten auf ihre Kosten, Fans guten Box -Sports blieben auf der Strecke. Das Spree-Gewächs Kalle Heistermann, der vor einem halben Jahr nach 26 (!) Sekunden auf die Bretter geschickt worden war, feierte ein gelungenes Comeback im Kreise seiner Profi-Kollegen. Nach fünf Runden hatte er den 37(!)jährigen Werner Pelz (München) mit unzählig vielen linken Geraden mürbe gemacht - Sieg durch technischen K.o. Zwar freute sich Heistermann über diesen Erfolg, doch gegen den behäbigen, ja, dicklich wirkenden Pelz, der für seine Abreibung eine Prämie von 5.000 Mark einstecken durfte, hätte es wohl ausgereicht, einen Ventilator in den Ring zu stellen- auch der hätte den untrainierten Bayern ausgepustet. Kommentar des Siegers: „Ick war halt jut druff.“ Kommentar des Verlierers: „Heut war net mei Toag.“

Großer Gewinner der Veranstaltung wurde neben den siegreichen Boxern auch der Veranstalter, das Boxing Team Berlin. Die rund 800 Zuschauer brachten an Eintrittsgeldern knapp 50.000 Mark. Durch Werbung, Sponsoren und Gelder an Fernseh-Übertragungsrechten (Ralf Rocchigiani kommentierte für den Offenen Kanal) dürfte das Doppelte der kalkulierten 42.000 Mark Kosten hereingekommen sein. Da grinste auch Mit -Veranstalter Michael Pohl: „Einen solchen Abend machen wir bald wieder.“

Fast wäre Pohl der Reibach jedoch ordentlich vermiest worden. Ein Beschluß des Bundes Deutscher Berufsboxer (BDB) besagte nämlich (wir berichteten), daß sich alle Kämpfer vorher einem Aids-Zwangstest zu unterziehen hätten. Falls kein ärztliches Gutachten vorläge, so der BDB, dürften die Prügelknaben nicht auf einander losgehen. Doch Pohl erreichte, weil er zu spät informiert worden war, noch einmal eine Ausnahmeerlaubnis - Zum allerletztenmal, wie signalisiert wurde. Schweiß und Blut spritzte übrigens auch ins Publikum. Vielleicht war es das, was die Zuschauer so in Wallung brachte.

Holger Schacht

Die weiteren Ergebnisse: Mittelgewicht (vier Runden): Ramazon Ongün (Berlin) Punktsieger über Tritmir Jandrek (Jugoslawien). Halbmittelgewicht (vier): Andreas Marks (Berlin) gegen Mirsad Mahmutovic (Jugoslawien) unentschieden. Cruiser-Gewicht (sechs): Yurder Demircan (Berlin) Punktsieger über Bernd Kulle (Münden). Leichtgewicht (vier): Aytekin Urdal (Berlin) Punktsieger über Mario Cocco (Duisburg).