Press-Schlag: Schlagzeilenklau
■ Ein toter Nazi stiehlt Steffi Graf die Schau
Da hat sie nun zwei Jahre lang ihre Rückhand verbessert, am Aufschlag gefeilt, der Vorhand immer mehr Wucht verpaßt, ist langsam aus dem Schatten Boris Beckers herausgetreten, hat Turniere über Turniere gewonnen und den Weltranglistencomputer bis zum Platzen mit Punkten gespeist. Am letzten Sonntag hatte sie es endlich geschafft. Nachdem die sich nicht ganz auf der Höhe befindliche beste Tennisspielerin der letzten Jahre, Martina Navratilova, im Halbfinale des Turniers von Los Angeles sang– und klanglos gegen ihre Jugendrivalin Chris Evert verloren hatte, besagte Evert wiederum im Finale gegen Steffi Graf chancenlos war, wies das Computerkonto der 18jährigen Steffi Graf 248,9041 Punkte auf, Navratilovas hingegen nur 247,8259. Der Deutschen neuestes Lieblingskind war die Nummer Eins. Auf dieses Ereignis hatte die bundesdeutsche Boulevardpresse monatelang gewartet. Oft war es schon beschworen worden, immer hatte Navratilovas Serve and Volley–Perfektion einen Strich durch die Rechnung gemacht. Endlich war es soweit. Doch wer nun glaubte, daß die Titelseiten in dicken Lettern von Steffis Ruhm künden, die Postillen der Regenbogenjournaille zu Graf–Sonderausgaben geraten würden, sah sich schwer getäuscht. Kaum hatte Steffi Graf den Gipfel ihrer Karriere erklommen, kam ein gewisser Rudolf Heß daher, starb und stahl ihr die Schau. Das perfide getimte Ableben von Hitlers Schoßhund beherrschte die Schlagzeilen, für Steffi blieben nur die Krümel. Zehn Seiten widmete das Berliner Revolverblatt BZ den näheren Todesumständen des Spandauer Renommiergefangenen, die Vorhand der frischgebackenen Nummer Eins füllte gerade mal zwei. Der Knalleffekt von Los Angeles geriet zum Rohrkrepierer, und Steffi Graf ist um eine wertvolle Erfahrung reicher: In Deutschland geht halt nichts über einen alten Faschisten. Nicht mal eine Tenniskönigin. Matti
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