■ Schlagloch: Oberförster Glotz und seine Bonner Runde Von Friedrich Küppersbusch
„Sie werden müde sein. Wir sind es, am Ende eines langen Tages, sicherlich auch. Gute Nacht.“ Ungewöhnlich pastoral verabschiedete sich der stattliche, blonde, junge Mann von seinem Publikum. Stattlich blieb er, älter wurde er und silbergrau: Hanns-Joachim Friedrichs kam die Ehre zu, die erste Wahlsendung des deutschen Fernsehens zu beschließen. Gegen zwei Uhr morgens durfte der Außenreporter die Zuschauer ohne Wahlergebnis in die Betten entlassen. Die unverstellte Melancholie seiner Abschiedsworte läßt ahnen, daß das Fernsehteam im Bonner Bundeshaus sich zu diesem Zeitpunkt eh schon einigermaßen verlassen wähnen mußte.
Die Stunden zuvor hatte das Fernsehen in der Lobby des alten Bundestages verbringen dürfen. Wofür man dem Hausherrn, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier, dermaßen dankbar war, daß man ihm ein zwölfminütiges Interview angedeihen ließ. Es handelte von allerlei possierlichen Themen, so auch der Frage, wo denn nun Politiker selbst diese entscheidenden Stunden verbringen mögen. Mangels Endergebnis gab es eigentlich nichts zu kommentieren. Die spitzeste Frage galt der Wahlbeteiligung. Die tendierte relativ hoch, und so gab Gerstenmeier unumwunden zu, daß er dies begrüße. War irgendwo ein Wahlkreis schon ausgezählt, wurde das Ergebnis mit Kreide auf eine bereitgestellte Wandtafel geschrieben. Selten haben Form und Inhalt im politischen Fernsehjournalismus wieder so eng zueinander gefunden wie in jener verfilmten Sozialkundestunde 1961.
Schon beim nächsten Versuch, 1965, hatte das Fernsehen herausgefunden, daß die Spitzenpolitiker jene Nacht in ihren Parteizentralen verbringen. SPD-Fraktionschef Fritz Erler erwies sich in einem ersten Interview über jeden Verdacht erhaben, etwa nur deshalb nach Bonn gekommen zu sein, um reichlich in die Kameras gucken zu dürfen: „Ich werde doch in der Wahlnacht keine Ergebnisse kommentieren“, bölkte er den Reporter an, der in die SPD-Baracke vorgedrungen war. Außerdem, so Erler ungehalten weiter, habe er im Rundfunk aber ganz andere Zahlen gehört, von einem neuerlichen Scheitern des sozialdemokratischen Kandidaten Brandt könne ja wohl gar keine Rede sein.
Im Wahlstudio sagte man derweil abenteuerliche Dinge wie „wir haben eine erste Hochrechnung“ oder „wir schalten jetzt zur CDU“. Und das mit einem Zittern in der Stimme, das Wagemut und Abenteuerlust, Unerschrockenheit und auch Todesverachtung ahnen ließ. Worauf die erste Hochrechnung spontan abstürzte und statt Schalte ein Stördia erschien. Aber der Verlust der redlichen Volksschullehrerunschuld gelang dann doch noch: Mit Schmidts späterem Regierungssprecher Klaus Bölling und dem routinierten Dieter Gütt saßen zwei Journalisten vor Papierstapeln bereit. Immer wieder sah man sie im Zwischenschnitt kritzeln und Bleistifte knabbern, grübeln oder auch mal eben rausgehen – bis die Spannung ihren Höhepunkt erreichte. Wieder mit Mondlandetimbre wurde dem Zuschauer eröffnet, daß man jetzt noch etwas ganz Neues habe, dramatische Pause, nämlich: „einen ersten Kommentar“.
Damit war die politische Fernsehberichterstattung in ihren Grundzügen zu Ende erfunden. Wahlstudio, Hochrechnung, Schalte, oft fruchtlose Interviews mit Politikern, die alle irgendwie die Wahl gewonnen haben, und das Yin und Yang, Feller und Lueg, Hauser und Kienzle, das solche Ergebnisse bis heute begleitet.
Letzten Sonntag hat dies Prinzip ein neues Enkelchen bekommen. Und das ging so: Seit langem leidet RTL-Chef Thoma und in seinem Auftrag Chefredakteur Mahr unter den Tretminen, die ihm die Landesrundfunkgesetze mit den verhaßten unabhängigen Fenstern im Programm versteckt haben. Erscheint die DCTP-Kralle im RTL-Programm, stürzen die Ratings rechtwinklig zu Tal und sind auch nach dem Abspann nicht mehr zu heilen. Wer immer Sonntagabends bei der Konkurrenz sendet, greift zur Programmzeitschrift und klärt die Jokerfrage „Wann legt der Kluge los?“. Und will es der Zufall, daß man nicht gegen das „echte“ RTL, sondern nur seinen Untermieter ansenden muß, ist die Freude groß und die Quote auch. Außer natürlich bei RTL, wo man deshalb dazu übergegangen ist, Kluge die Sendeplätze abzuhandeln. So soll Kluge zum Beispiel freitags kurz vor 22 Uhr noch Anspruch auf ein Viertelstündchen haben, heißt es: eine Splittergranate im „audience flow“ von RTL. Was es kostet, daß er dort nicht sendet, wo er eigentlich senden dürfte, wissen wohl nur RTL, Kluge und sein Kontoberater.
Diesen Sonntag um 22.55 Uhr kam jedenfalls erstmals nicht hochanspruchsvoller Kulturschwurbel von grottoider Publikumsferne, sondern „Im Kreuzfeuer. Halbzeit in Bonn. Mit Peter Glotz und Heinz Klaus Mertes. Gäste: Hintze, Müntefering, Westerwelle, Rühle“. Der Titel ist frei, seit Klaus Bednarz im Golfkrieg seine Anrufsendung „Monitor im Kreuzfeuer“ zum Zeichen seines Gewaltverzichts umbenannte in „Monitor im Kreuzverhör“. Das Moderatorendoppel wurde mit Hauser und Kienzle verglichen, hier mit dem Bonus eines Ex-Politikers, der das Ufer wechselt. Die Besetzung stammt aus der altehrwürdigen „Bonner Runde“. Die zitierte Glotz fairerweise zu Anfang wörtlich, und außerdem hatte man Ernst Dieter Lueg eingeladen, der dann als Fototapete der Kompetenz im Studiopublikum rumsaß und auftragsgemäß so guckte, als sei das hier eine Sendung, bei der auch ganz kompetente Journalisten zugucken würden.
Munter ging es dann los, schon nach 15 Minuten fuhr Westerwelle Mertes an: „Lassen Sie mich mal ausreden, der Chef hat's erlaubt!“ und beschrieb damit zutreffend die Kompetenzverteilung unter den Moderatoren. Überhaupt lief die Show unter der Überschrift „Der joviale Oberförster Glotz hat ehrwürdige Gäste ins Wirtshaus geladen, und damit auch Stimmung in die Bude kommt, läßt er ab und an seinen Deutsch-Drahthaar von der Leine“.
Der erklärte nach 20 Minuten die „soziale Marktwirtschaft für beendet“, was selbst Westerwelle zu einer Distanzierung nötigte. Dann verbiß sich Mertes in Müntefering, weil die Sozialdemokraten doch noch immer keinen Kanzlerkandidaten nennen können. Daraufhin muß jemand Glotz geweckt haben, der darauf hinwies, daß die Union eigentlich auch noch keinen hat. Irgendwann kam ein Werbeblock, und danach postulierte Glotz in einem vorbereiteten Statement die Große Koalition, und Mertes war dann aber eher dagegen, und dann kam der Abspann.
Das war ganz schwungvoll, keiner hat was Neues gesagt, das aber heftig und im Ton unversöhnlich. Und was weiß ich, ob das abstürzt wie „Tacheles“ oder ein Erfolg wird wie „Talk im Turm“ oder irgendwas dazwischen. Und so soll diesem Fernsehereignis auch nicht zuviel Bedeutung eingeräumt werden.
Nur der Hinweis scheint mir eine Notiz wert, daß diese „Bonner Runde“ erstmals in der deutschen Fernsehgeschichte komplett ohne vorhergehende Bundes- oder Landtagswahl auskam. Das ist, im aktuellen Wettbewerb der Sender betrachtet, auch gar nicht wichtig. Aber es bewegt sich doch etwas.
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