■ Schlagloch: Ist das Volk zu blöd für die Politik? Von Christiane Grefe
„Es gibt eine Verbindung zwischen Geschwindigkeit und Denken, und zwar eine negative.“ Pierre Bourdieu
in der „Süddeutschen
Zeitung“
Rituellen Charakter haben die im Wahljahr wieder aufblühenden Debatten über die Rolle der Medien in der Demokratie. Auf der einen Seite werfen „die“ Medien „der“ Politik vor, die Öffentlichkeit werde nur abgespeist mit oberflächlichen Inszenierungen, mit „Politik als Show“, kritisierte gerade wieder der Spiegel. Die Angegriffenen geben den Schwarzen Peter zurück und beklagen, daß sie eben nur dann reüssierten, wenn sie den Ehebrecher, Radrennfahrer oder Koch gäben oder wenigstens in ordentliche Intrigen verwickelt seien – mit ihren sachlichen Vorschlägen aber kämen sie kaum durch. Kurzum, die Medien seien an allem schuld. Während „die“ Zuschauer als Dritte im Bunde den Verdacht hegen, daß die anderen beiden so schlecht auch wieder nicht miteinander auskommen: schafft doch die Politikshow den einen Mehrheiten und den anderen Quote respektive Auflage. Und tatsächlich gibt es in der bunten Info-Warenwelt natürlich weder „die“ Politiker noch „die“ Medien; zwischen Hera Lind und „Monitor“, Frau im Spiegel und den immer umfassenderen Angeboten vieler Tageszeitungen sind die Unterschiede ebenso himmelweit wie bei dem, was Zuschauer daraus machen.
Eine Tendenz aber ist bei aller Viefalt unbestreitbar: Zu kurz – auch im Wortsinn – kommt bei der politischen Berichterstattung alles, was Deutungsschneisen durch den Informationsdschungel schlägt. Das schnelle Nachrichtenwachstum wirkt ja nicht an sich schon aufklärend, sondern im Gegenteil oft verwirrend. Doch umfassende, von Selbst-Denkern recherchierte Analysen; Reportagen, die mehr sind als spekulative Oberflächenspiegelung und die sich der Widersprüchlichkeit des Beobachteten stellen, und wohlbegründete Meinungen – all das wird zumindest nicht mehr ins Schaufenster gestellt. So fortgeschritten ist diese Entwicklung, daß man sie erst wieder bemerkt, wenn zwischen Smalltalk und abgehakten Positions-Rollenspielen à la Sabine Christiansen ganz unerwartet die andere Möglichkeit aufblitzt.
Neulich zum Beispiel, in der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Lafontaine?“: Da wurde der SPD- Parteivorsitzende nicht nur mit Satzvervollständigungsspielchen, sondern auch mit dem Sozialforscher Meinhard Miegel konfrontiert. Zielstrebig nahm dieser Lafontaine in die Mangel, wie er der Arbeitslosigkeit beikommen wolle, was schnell in den Disput über Amerika mündete. Ob Lafontaine für mehr Jobs etwa den gleichen Sozialabbau wie die USA betreiben wolle?, provozierte Miegel den Ministerpräsidenten – der konterte, die Zunahme der Beschäftigungsverhältnisse dort sei auf ganz andere Ursachen, nämlich die Geld- und Steuerpolitik, zurückzuführen. Grundverschiedene Positionen, die es nun zu entwickeln galt, und siehe, die Kontrahenten hörten einander zu, reagierten, argumentierten, das fängt ja, dachte man, richtig lehrreich an, vielleicht kriege ich endlich mal Klarheit, ob das Jobwunder nun angeblich ist oder echt. Doch zu früh gefreut. Denn erstens erlaubt die Politikshow für dergleichen pure Sachlichkeit zehn Minuten – keine mehr. Und zweitens waren selbst diese dem Moderator schon peinlich. Als müsse er sich dafür entschuldigen, brach er die, um Himmels willen, „etwas akademische“ Diskussion ab. War sie über Niveau? Über wessen? Selten wird die Herrschaft eines zuschauerverächtlich definierten Mittelmaßes so deutlich formuliert.
Frustriert saß ich da, dialogus interruptus, und erinnerte mich: an Programme, in denen ein Atomkritiker und ein -befürworter sich eine ganze Stunde lang auseinandersetzten – nur die beiden, ohne Moderator. An meine erste Hospitanz bei „Fünf nach Zehn“, einer politischen Diskussionssendung, die vor Jahren schon als grenzwertig flott galt. Aus heutiger Sicht ist kaum zu glauben, wie langsam die Teilnehmer da ihre Ansichten entwickeln konnten. Früher war alles besser? Zugegeben, das Lamento gehört ebenfalls zum medienkritischen Ritual, und auch diese Beispiele waren wohl eher Ausnahmen. Doch es gab sie.
Jetzt aber unterliegen nicht mehr nur das Fernsehen, sondern auch Radio und Zeitschriften immer mehr dem nivellierenden Beschleunigungsdruck. Wenn Informationen Waren sind, dann müssen sie so kostengünstig wie möglich hergestellt werden. Weniger und schlechter qualifizierte Mitarbeiter sollen also mit geringerem Aufwand möglichst breit vermarktbare Medienprodukte hervorbringen. Über jedes Thema kann man ja schnell am Telefon etwas zusammenrecherchieren. Das Drama der Wahrheitsfindung indes setzt Sorgfalt voraus: Anschauung statt bloßer Abstraktion; Material aus vielen Quellen; Fragen, Gegenfragen, Rückfragen – und all das kostet, Geld und Zeit, Denken dauert. Hinzu kommt der sich verschärfende Wettbewerb: Daß er in den USA bereits zur Veröffentlichung von gänzlich quellenfreien Spekulationen führt, hat der Fall Lewinsky gezeigt.
Diese umgekehrt proportionale Entwicklung kann der Demokratie nicht nützen. Durch Individualisierung und Globalisierung werden die Gesellschaft und die politischen Entscheidungsebenen immer komplexer – während sich die Medienlandschaft „focussiert“. Gefragt sind nur noch Häppchen, Ausführlichkeit gilt als Zumutung. Der daraus resultierende Zuspitzungs- und Eindeutigkeitszwang aber hat mit der vielschichtigen Wirklichkeit nur noch wenig zu tun. In ein und derselben Woche wird beispielsweise im Focus die Auferstehung der Institution Familie gefeiert, während der Spiegel ihren Tod beklagt. Und was nicht auf Pointe getrimmt werden kann, kommt gar nicht vor. Daß etwa die Bedeutung der Europapolitik in der Öffentlichkeit vollkommen unterbewertet, auch mißverstanden wird, ist durch Studien belegt. Ein Thema wie das Patentrecht für gentechnische Verfahren, das weltweit kaum absehbare Folgen für Medizin und Landwirtschaft haben wird, gilt wegen seiner Komplexität als kaum mehr vermittelbar, meinen Politiker wie Redakteure. Ist es damit auch kaum mehr beeinflußbar? Oder die Globalisierung: Viel zu lange wurde sie ausschließlich als kleinkarierte Standortdebatte diskutiert. Und weil sie aus guten Gründen auf PR-Arbeit verzichten, bleiben die ökonomisch Mächtigen, die die Politik tatsächlich bestimmen, in den Medien ziemlich unsichtbar: Brüsseler Lobbyisten oder Funktionäre der Welthandelsorganisation, deren Beschlüsse potentiell immerhin nationale Gesetzgebungen unterminieren.
Mir scheint, Gore Vidals Deutung trifft nicht mehr nur auf Amerika zu: Daß Clintons Sexualleben „jetzt im Mittelpunkt des politischen Diskurses steht“, schrieb er in der SZ, passe „ins Bild einer totalen Vermeidung der Themen, auf die es eigentlich ankäme“. Vielleicht ist Clintons neuer Popularitätsaufschwung ja sogar eine Trotzreaktion auf diese Mediokratie – und das Volk für Politik doch nicht zu blöd?
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