piwik no script img

Schläge und Freiluftübungen

■ Bremer Amtgericht fällt mildes Urteil trotz vorsätzlicher Brandstiftung / Lebensgeschichte berücksichtigt / „Verminderte Schuldfähigkeit“

Es geschah im Juni des vergangenen Jahres: Im Anschluß an einen Streit mit seinem Vermieter und einem seiner Nachbarn hatte der 35jährige Günter L. seine Bremer Wohnung in Brand gesteckt - vorsätzlich, wie das Bremer Amtsgericht jetzt entschied. Das Urteil fiel allerdings milde aus:

ein Jahr Freiheitsentzug auf Bewährung, wegen „erheblich verminderter Schuldfähigkeit“. Denn hinter dem, was auf den ersten Blick wie ein Racheakt aussieht, steht die Geschichte eines Außenseiters: ein Stück Leben in gesellschaftlicher Isolation.

Hinter der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“, so das Juristendeutsch, verbirgt sich eine Biographie, die aus einem traurigen Groschenroman entliehen sein könnte. Und so stand dann auch die Lebensgeschichte des Angeklagten viel stärker im Mittelpunkt des Verfahrens als die Tat selbst.

Die Kindheit von Günter L. war voll Familienstreit und Liebesentzug: Der Vater Trinker,

die Mutter starb früh an Krebs. Schlechte Leistungen in der Schule und erhebliche Kontaktschwierigkeiten markierten den Beginn einer typischen Heimkarriere. Und das bedeutete Mitte der 60er Jahre Erziehung zum bedingungslosen Gehorsam. Schläge, Freiluftübungen mit nackten Füßen im Schnee, Recht des Stärkeren. Alles nach dem Motto „Was uns nicht tötet, macht uns hart“, so der psychologische Gutachter Manfred Beyer vor dem Amtsgericht.

Schnell war Günter L. mit dem Etikett „schwer erziehbar“ versehen. Dazu Minderwertigkeitskomplexe und erste Enttäuschungen in der Liebe. Dann entdeckte Günter L. seine sexuelle Anders

artigkeit, den Trieb, sich anderen Menschen gegenüber nackt zu zeigen. Seine Umwelt reagierte mit Unverständnis und Abneigung.

Exhibitionistische Aktivitäten schafften dem Angeklagten nach Meinung von Beyer einen Ausgleich für erlittene Demütigungen und Verachtung und bauten darüber hinaus psychische Spannungen ab. Gleichzeitig aber verbauten sie Günter L. jede neue Lebensperspektive. Er wurde aus Heimen hinausgeworfen, verlor Berufe und lernte psychiatrische Kliniken von innen kennen.

Auch wurde er zum ersten Mal mit dem Strafgesetzbuch, das Exhibitionismus unter Strafe stellt, konfrontiert. Nachdem mehrere Haftstrafen auf Bewährung ausgesetzt worden waren, mußte der Angeklagte 1983 zum ersten Mal ins Gefängnis, wegen Exhibitionismus und Diebstahl.

Nach seinem letzten Gefängnisaufenthalt versuchte Günter L. Anfang 1985 einen neuen Start in Bremen. Er bezog eine Wohnung, fügte sich in sein neues soziales Umfeld gut ein und begab sich wieder in therapeutische Behandlung. Aber die Fortsetzung seiner exhibitionistischen Aktivitäten führten auch in Bremen zu rüden Reaktionen seitens der Nachbarn und zu einer ersten Abmahnung durch den Vermieter.

Aus Angst, auch diese neue Lebensperspektive wieder zu verlieren, - so die Verteidigung - drehte der Angeklagte durch und setzte seine Wohnung in Brand. Vor dem Amtsgericht konnte sich Günter L., der noch bis Mitte Januar eine Gefängnisstrafe in Bremen absitzt, nicht mehr daran erinnern.

Nach dem jetzigen Urteil wird er im Januar das Gefängnis verlassen können, muß sich aber einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehen. Für seinen Rechtsanwalt, Uwe Picard, könnte dieses Urteil für Günter L. „einen neuen Lebensabschnitt eröffnen und ihm die Möglichkeit bieten, an seinen Problemen wirklich zu arbeiten“.

Oma

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen