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■ Medien in Berlin: e-zines verlegen ist leichter, als die Cyberpolizei erlaubt

1976 waren Musik und Mode langweilig geworden. Grund genug, Punk zu erfinden. Von jetzt an gab es keine langweilige Musik mehr, weil die Songs nie länger als drei Minuten waren. Müllsäcke in Miniröcke zu transformieren machte gute Laune und einen Spaziergang durch den nächsten Supermarkt zu einem Ereignis. Um all diesen kulturellen Umwälzungen eine abschließende und korrekte Form zu geben, hielt man sie schriftlich fest und bastelte aus überflüssig gewordenen Hochglanzmagazinen Fanzines zusammen.

Die freie Distribution von Informationen suchte sich in den Achtzigern neue Wege, und mit den Computernetzen konnten Botschaften, die für Nachrichtenmagazine und Fernsehsender völlig irrelevant waren, weltweit verbreitet werden. Der Computer ist – wie einst die Druckerpresse – des Tyrannen Feind und Volkes Freund. Fanzines, die ursprünglich dem Austausch zwischen Fans dienten, verwandelten sich in Newsgroups und später in e- zines, elektronische Magazine.

An der Errichtung des WELL (Whole Earth 'Lectronik Link), einer der ersten Virtual Communities des Internet, waren die Deadheads, Fans der Hippie- Band Grateful Dead, die in einem großen Treck die Gruppe auf ihren Tourneen begleiten, maßgeblich beteiligt.

Auch Punkmagazine hatten sich zu ihrer Zeit neue Technologien zunutze gemacht: Xeroxkopierer boten die Möglichkeit, kleinste Auflagen billig zu produzieren. Damit die Verbreitung wichtiger Nachrichten und subversiven Materials nicht in den Zirkeln der Szene steckenblieb, empfahl mancher Herausgeber seinen Käufern und Kollegen, Fanzines an hochfrequentierten Orten wie Schnellrestaurants und Arztpraxen abzulegen. Mit dem World Wide Web sind diese Distributionsprobleme endgültig gelöst, e-zines können trotz minimaler Herstellungskosten die ganze Welt erreichen. Im World Wide Web existieren heute Dutzende Punk-Fanzines, Musikmagazine und Literaturzeitschriften. Das amerikanische Urban Desires, (http//desires. com) „ein interaktives Magazin metropolitaner Leidenschaften“, hat innerhalb von kürzester Zeit und nur fünf Ausgaben Hunderttausende von Lesern erreicht und ist ein gutes Beispiel dafür, wie die neue Technologie nicht gekannte Formen hervorbringt. Hier sind das interaktive Comics. Bestimmte Zonen in den Bildern von Andrew Watts „The Talking Feds“ können angeklickt werden. Die Geschichte wird also nicht mehr linear erzählt. Sie spiegelt im kleinen die multidimensionale Struktur des WWW wider.

Weltweite Distribution hat aber auch ihre Schattenseiten: Nie wäre ein Punkfanzine mit einer Auflage von 100 Exemplaren ins Visier der Zensur genommen worden. Urban Desires hingegen mußte aus juristischen Gründen bereits ein Fotoexposé aus der lesbischen Plastic-doll-Szene mit elektronischer lila Farbe übertünchen.

Die Vorstellung, daß jeder sein eigener Verleger sein kann, ist den traditionellen Medieneliten ein Dorn im Auge. Amerikanische Printmagazine haben im Augenblick ein neues Lieblingsthema: Das Netz sei voll mit Anleitungen zum Bombenbauen (Oklahoma!) und schlimmster Pornographie. Der Ruf nach der Cyberpolizei folgt auf dem Fuße. Manches e-zine könnte in einen Zustand versetzt werden, der seinen analogen Vorvätern nicht unbekannt war, nämlich den der Illegalität. Ulrich Gutmair

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