Schirm & Chiffre: Eigentlich mehr als ein Techno-Gimmik
■ Kreuzberg online!! Mit öffentlichen Terminals gäbe es jetzt die Chance einer schichtübergreifenden Kommunikation
Die ganze Stadt ist wieder mal voll mit freundlichen Slogans: Alles ist gut, wird aber noch besser, verspricht uns die Große Koalition der Abgeordneten von morgen auf den Plakaten. Auch Kreuzbergs Bürgermeister Peter Strieder konnte letzte Woche einen wahlkampftauglichen Coup landen, der in eine bessere Zukunft weist. Seit Mittwoch, 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit, ist Kreuzberg als erster Berliner Bezirk online.
Mit Kreuzberg online läßt sich nicht nur das hiesige Wahlvolk beeindrucken, Strieder sieht darin einen willkommenen Imageträger, der den Bezirk mit Blick auf Bonn aus der „Schmuddelecke“ in die „junge und kreative“ Welt der 90er Jahre katapultieren soll. Geplant und realisiert wurde das Projekt durch die Kreuzberger Agentur ID Praxis als umfassendes lokales Informationsangebot im Internet. Da die internationale Stadt Berlin und die Kulturbox bereits ähnliche Angebote im Netz plaziert haben, ist Kreuzberg online (http://www.contrib.net/regional/berlin) allerdings auch nicht gerade revolutionär.
Die Macher wollen Kreuzberg online zwar nicht als Konkurrenzangebot verstanden wissen und stellen eine Kooperation in Form von gegenseitigen Links in Aussicht. Trotzdem dürfte der World Wide Web bald mit kulturellen Berlin-Infos übersättigt sein.
Mit Kreuzer, einer virtuellen Stadtteilzeitung, bietet Kreuzberg online aber immerhin aktuelle Informationen aus dem Kiez: in der Politikabteilung der ersten Ausgabe findet sich zum Beispiel ein Beitrag zum „Haus der Menschenrechte“ mit Link zur „Topographie des Terrors“ oder eine Reportage zum Warteschlangenterror in der Ausländerbehörde am Waterlooufer: „30 Stunden Wartezeit für einen Stempel“.
Kreuzberg online soll sich in Zukunft selbst tragen und wartet daher auch mit Porträts Kreuzberger Unternehmer auf, darunter Atlantis und Südwind, die als Hersteller von Umwelttechnik gleich noch das neue Kreuzberger Paradigma von Jugendlichkeit und Kreativität ins Globale Dorf transportieren. Der Bezirk selbst ist mit einer „moderaten“ finanziellen Beteiligung und vor allem durch „Informationen aus dem Rathaus“ dabei. Die Mitglieder und Hausadressen des Bezirksamts können hier abgefragt werden. Die Benutzeroberfläche ist auf allen sechshundert Bildschirmseiten, die Kreuzberg online ausmachen, gleich und damit leicht zu bedienen.
Von jeder Seite aus können Nachrichten verschickt werden. Auch an Bürgermeister Strieder, nur hat der noch keine eigene E-Mail-Adresse. Nachrichten müssen also von den Mitarbeitern der ID Praxis per Fax weitergereicht und nach Beantwortung wieder ins Netz gebracht werden.
Das wird sich wohl bald ändern, ist aber doch symptomatisch für das Manko des Dienstes. Elektronische Kommunikation wird auch hier noch zu sehr als Techno- Gimmik begriffen. Dabei haben Pilotprojekte in den USA gezeigt, daß die virtuelle Gemeinschaft sehr wohl die Kommunikation zwischen Menschen ermöglicht, die im wirklichen Leben herzlich wenig miteinander zu tun haben.
Obdachlose zettelten Diskussionen auf dem virtuellen Schwarzen Brett einer kalifornischen Stadtverwaltung an, die Beamte zum Handeln zwangen, einen Bewußtseinswandel unter der Wohnraum besitzenden Bevölkerung auslösten und zum Nachdenken darüber führten, was man konkret unternehmen könnte. Mit Hilfe öffentlicher Terminals hatten Menschen eine Stimme bekommen, deren Äußerungen in der Öffentlichkeit auf das Betteln um Geld oder Essen beschränkt gewesen waren.
Public Terminals sind in Kreuzberg nicht geplant, das Diskussionsforum innerhalb Kreuzberg online wird also bis auf weiteres Spielwiese der Informationselite bleiben. Dabei hatte eine Infokampagne des Abgeordnetenhauses Hoffnung auf neue Politik gemacht. Auf der Broschüre, die dieser Tage in allen Haushalten landete, war zu lesen: „Neue Verfassung von Berlin. Keine Werbung.“ Ulrich Gutmair
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