Schirm & Chiffre: Erkenntnisse aus den Jugendzimmern
■ Simulationen für Manager, luxuriöse Partylines und CD-Roms mit Onkel Pong: In Babelsberg fand die 4. interActiva statt
Potsdam–Babelsberg, letztes Wochenende. Schräg gegenüber der Marlene-Dietrich-Halle steht Halle West, ein faschistischer Bau, der allein durch die Tatsache einige Sympathiepunkte gewinnt, daß zwischen den Säulen ein handgemachtes Transparent hängt. Es wies den Weg zur 4. interActiva. Das internationale Festival für interaktive Medien fand – nach den ersten beiden Jahren in Köln – schon zum zweiten Mal in Babelsberg statt.
Wo man vor 50 Jahren Heinz- Rühmann-Filme drehte, wurden drei Tage lang multimediale Anwendungen in den Sparten industrielle Anwendungen, interaktives Fernsehen, Infotainment, Edutainment, Online Dienste und Spiele präsentiert.
Abgesehen von der immer noch nicht geklärten Frage, ob Info- und Edutainment etwas anderes sein könnten als ein weiterer Marketingtrick, stellte sich schnell heraus, daß die Anwendungen, die hier unter interaktivem Fernsehen firmieren, mit Fernsehen wenig zu tun haben, manche CD-Rom dem Begriff des interaktiven Films aber eine neue Bedeutung geben könnte. Das High Tech Center Babelsberg, das als Unterstützer des Festivals fungiert, plant als Zentrum für digitale Medienproduktion auch die Herstellung interaktiver Spielfilme.
Überhaupt ist die CD-Rom bis auf weiteres als das führende multimediale Format anzusehen: Während Wettbewerbsbeiträge früher noch einmal zusätzlich als Videos eingereicht werden mußten, hat die babylonische Sprachverwirrung in der Welt der Programmformate ein Ende gefunden und einer überschaubaren Anzahl von Systemen Platz gemacht.
Neben CD-Roms und Internetdiensten als Off- und Onlinestandards scheinen auf der interActiva trotzdem manchmal die vielfältigen Möglichkeiten interaktiver Medien auf, die über die üblichen Film- und Buchmetaphern multimedialer Anwendungen hinausweisen: In der „Villa“ der Firma Audioland ist das der Audiospace, in den man sich mittels eines ordinären Tastentelefons einwählen kann, um sich dann in den virtuellen Räumen der Villa zu bewegen und mit Menschen zu sprechen – öffentlich oder unter vier Ohren.
„Villa“ ist die avancierteste Variante telefonischer Partnertreffs und Partylines und entsprechend teurer. Unbezahlte Telefonrechnungen oder das neugewonnene Glück zu zweit sind laut Mitkonstrukteur Steffen Wernery dann auch meistens die Gründe für den endgültigen Ausstieg selbst hartgesottenster Villanauten aus dem System.
Daß Multimedia in der Wirtschaft sich nicht auf Videokonferenzen beschränken muß und von Entertainmentprodukten außerdem einiges lernen kann, beweist eine Anwendung der Dasa/ Daimler-Benz-Forschung. „Tharsos“ soll die „Entscheidungsfindung in komplexen Situationen und bei Strukturwandlungsprozessen“ erleichtern:
Zur Simulation einer Volkswirtschaft zum Beispiel können die wichtigsten Faktoren in einem Regelkreis dargestellt werden. Ändert man einzelne Parameter nur gering, hat das unter Umständen drastische Folgen. Die Chaos- Theorie läßt grüßen. Lernen soll der Manager hier, daß komplexe Situationen nicht unbedingt gezielt beeinflußt werden können. Kinder, die mit Computerplanspielen aufwachsen, wissen das allerdings bereits.
Um herauszufinden, was man mit neuen Technologien anstellen kann, müssen die think-tanks der Wirtschaft offensichtlich immer wieder auf die Erkenntnisse der Undergrounds in den Jugendzimmern der Welt zurückgreifen. Das gilt für Techno wie für Multimedia. Nun sollen die Kleinen aber nicht nur die intellektuellen und kulturellen Standards der Zukunft definieren, sondern sich auch amüsieren. Neben der „CD-I mit der Maus“ wurde auf der interActiva unter anderem die CD-Rom „Max und die Geheimformel“ präsentiert.
Ob für Kinder oder Erwachsene, bei vielen Unterhaltungs- CD-Roms ist Mitdenken gefragt. Während die Spieler von „Max und die Geheimformel“ Onkel Pong die Formel besorgen sollen, um den schiefen Turm von Tante Lisa vor dem Umfallen zu bewahren, und dabei lernen, mit Zahlen umzugehen, hat der Anwender von „Hard Evidence: Die Akte Marilyn Monroe“ die Aufgabe, den Fall zu lösen: War es Mord, Unfall oder Selbstmord?
Die CD enthält unzählige Dokumente und Zeugenaussagen, die man aus der Perspektive des Staatsanwaltes, des Reporters oder des Gerichtsmediziners sammeln und interpretieren muß. Am Ende ist der Spieler ausführlichst über alle bekannten Fakten und die wichtigsten Theorien zum Fall Monroe informiert. Zum Schluß präsentieren die Autoren die aus ihrer Sicht wahrscheinlichste Version.
Auch wenn es in der Mehrzahl der vorgestellten Anwendungen kaum bewegte Bilder gibt, bieten Entertainment-CD-Roms eine Vorstellung davon, was interaktive Filme sein könnten: Erst in der aktiven Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer Geschichte entsteht so etwas wie ein nicht-linearer Plot. Entsprechend groß ist der personelle und finanzielle Aufwand, wenn analog zu Filmproduktionen über Monate und Jahre hinweg recherchiert, fotografiert und programmiert werden muß.
Der Wettbewerb sei nicht so ernst zu nehmen wie auf hochdotierten Filmfestivals, hatte es im Vorwort des Festivalleiters Peter Krieg geheißen. Das ist verständlich, hatten die Veranstalter doch größtenteils Multimediaanwendungen ausgewählt, die den Namen auch verdienen. Am Ende wurden in Babelsberg trotzdem in jeder Kategorie „Babelfische“ vergeben. Diese Trophäen sind von Douglas Adams' Science-fiction-Satire „Per Anhalter durch die Galaxis“ inspiriert – kleine Fische, die alle Sprachen verständlich machen sollen, wenn man sie ins Ohr steckt.
Daß einer der Babelfische an die CD-Rom von ORB-Radio Fritz! vergeben wurde, eine Low- budget-Produktion (vgl. auch Schirm & Chiffre vom 24. 8.), läßt sich als Aufforderung der Jury verstehen, Multimedia nicht nur den multinationalen Unterhaltungsindustrien zu überlassen. Mal sehen, was den Kids dazu einfallen wird. Ulrich Gutmair
Wird weiter fortgesetzt, von jetzt an aber in unregelmäßigen Abständen.
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