■ Schirinowskis unglaublicher Auftritt vor dem Europarat: Das Rußland Kowaljows geht unter
Bravo. Der Europarat hat Weitblick bewiesen. Die Einladung an Wladimir Schirinowski entbindet die Politik von ihrer hilflosen Kaffeesatzleserei. Rollen von seichten Leitartikeln entfallen mithin. Es ist Zeit, die Uhren in Europa wieder vorzustellen, selbstverständlich wird der Kreml darüber vorab informiert (wenn er die Note nicht verschludert oder ein gedungener Bürokrat sie verschwinden läßt). Was Rußland der Welt in den vergangenen Wochen zumutete, ist boden-, doch leider nicht zusammenhanglos. Schirinowskis Äußerungen in Straßburg, Menschenrechtler Kowaljow sei „Ungeziefer“, ein „Lügner“, der in ein KZ und nicht in den Europarat gehöre, müßten ausreichen, um diesen Maniac stante pede in ein Flugzeug zu packen und die Kosten bei der Botschaft einzutreiben.
Als er die politische Arena betrat, mußte man ihn nicht richtig ernst nehmen. Ein Pathologe, ein Spinner, dessen Grundausstattung ihn irgendwie an Männlichkeitswahn leiden ließ. Selbst nach seinem Wahlsieg war er ungefährlich. Rußlands Bevölkerung, die zu drei Vierteln den Krieg in Tschetschenien verabscheut oder zumindest ablehnt, hat an ihm schon lange keinen Narren mehr gefressen. Die „politische Elite“ hingegen – sie gehört in Anführungszeichen – suchte und schloß das Bündnis mit ihm aus Mangel an sonstigem Rückhalt. Sie hat sich seine Phantasien zu eigen gemacht. Reichten Schirinowskis aggressiv-sexuelle Triebziele bis zum Indischen Ozean, wo sich russische Soldaten im warmen Wasser ihre Stiefel sollten säubern können, blieb die Ersatzmaschine Krieg bedauerlicherweise schon in den morastigen Vororten Grosnys stecken ...
Im heimischen Diskurs fallen Schirinowskis Äußerungen keineswegs aus dem Rahmen. Was soll man von einem faschistischen Abgeordneten verlangen, wenn der Verteidigungsminister desselben Landes in aller Öffentlichkeit dieselben Wörter benutzt und gleiche Inhalt transportiert? Wenn das Staatsoberhaupt, statt ihn zu maßregeln, ihm vielmehr zur Einnahme Potemkinscher Dörfer gratuliert?
Es gibt aber auch ein anderes, schwächeres Rußland; das Rußland Kowaljows, das wieder unterzugehen droht, weil wir der Macht huldigen, schweigen und womöglich als Voyeure an der Vulgarität noch Gefallen finden. Die Macht in Rußland ist plump und bar jeder Moral. Je unmoralischer aber – desto überheblicher und größenwahnsinniger. Klaus-Helge Donath, Moskau
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